Johann Gottlieb Fichte
Existiert die Welt außerhalb der Vorstellung, die ich mir von ihr mache, oder braucht sie vielmehr mich, um als solche zu existieren? Das ist die zentrale Frage, die Johann Gottlieb Fichte umtrieb. Fichtes Texte sind von zentraler Bedeutung, da sie eine Brücke zwischen den Werken Kants und Hegels schlagen. Fichte machte es sich zur Aufgabe, die ursprüngliche Einheit von wissendem (theoretische Philosophie) und handelndem Subjekt (praktische Philosophie) aufzuzeigen. Zu diesem Zweck begründete er eine neue Denkschule, den Deutschen Idealismus, dessen Höhepunkt seine Wissenschaftslehre (1794) war, zugleich das einzige zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Werk aus seiner Feder.
Fichte entstammte einer armen sächsischen Familie, lehrte in Jena und später in Berlin. Er versuchte, den begrifflichen Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, wie er etwa bei Kant zu finden ist. Um diese beiden Vorstellungen miteinander in Einklang zu bringen, vertrat er die Auffassung, dass das Objekt dem Subjekt untergeordnet ist. Fichte zufolge setzt die Wissenschaft voraus, dass das Subjekt nicht nur das Gefäß der Wirklichkeit ist, sondern dass es diese auch selbst hervorbringt. Wenn mein Geist die Natur durchdringen kann, dann deshalb, weil die Natur durch meine „eigenen Denkgesetze gebildet ist und mit denselben übereinstimmen muss“. Das bedeutet nicht, dass außerhalb meines Gehirns 2+2=5 ist, sondern, dass nur mein Verstand in der Lage ist, dieser Wahrheit Realität zu verleihen.
Diese universelle Subjektivität hat einen Namen: das „absolute Ich“. Fichtes Grundgedanke besteht in der Formulierung, dass das absolute Ich „sich selbst setzt“, d.h. dass es zugleich Subjekt und Produkt jeder Handlung ist. In demselben Moment, in dem es sich als unendlich begreift, schränkt sich das Ich selbst ein: Es setzt ein Nicht-Ich vor sich, mit dem es ständig interagiert. „Das Entgegengesetzte muss verbunden werden, solange noch etwas Entgegengesetztes ist; bis die absolute Einheit hervorgebracht sei“, sagt Fichte. Diese Einheit wird nie vollständig erreicht, sondern schreitet in dem Maße voran, in dem das Bewusstsein die Widersprüche zwischen sich und der Welt synthetisiert. Die moderne Dialektik wurde also aus Fichtes Feder geboren, ein Dutzend Jahre vor Hegels Phänomenologie des Geistes (1807).
Obwohl Wissen eng mit Freiheit verbunden ist, ist es kein Selbstzweck. Wissen ist in erster Linie ein Mittel zum moralischen Handeln: „Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht.“ Es ist nicht die Pflicht, die mich frei macht (wie bei Kant), es ist meine Freiheit, die mir Pflichten auferlegt. Der Mensch weiß instinktiv, dass er frei ist, oder vielmehr, dass er nur ein Entwurf von etwas ist, das sich als solches behaupten muss: „Frei zu sein ist nichts, es zu werden ist eine himmlische Sache.“ Wir wechseln also von einer kantischen Philosophie des Gehorsams zu einer fichteanischen Ethik des Freiheitsprojekts.
Fichte weitete diese Überlegungen auf den politischen Bereich aus, was zu seinem vorübergehenden Ausschluss von der Universität führte. Den Ausschlag gab hierfür der „Atheismusstreit“: Fichte wurde des Atheismus bezichtigt und musste Ende 1799 für einige Zeit seinen Lehrstuhl aufgeben. In Anlehnung an die Ideen Rousseaus (Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1796) interessierte er sich auch für die Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung innerhalb einer Gesellschaft. Die Nähe zu Hegel ist hier unverkennbar. Das absolute Ego ist mit dem Gemeinschaftsleben nicht unvereinbar, ganz im Gegenteil. Die Intersubjektivität zwischen den Menschen wird in mehrere Individualitäten zerlegt: „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch.“
Von der napoleonischen Besatzung empört, hielt Fichte 1807 seine Reden an die deutsche Nation, in denen er für die Gründung eines Nationalstaats und die Verteidigung der germanischen Kultur plädierte. Diese Reden wurden, ungeachtet der Tatsache, dass sie für Universalismus und Demokratie werben, von deutschen Nationalisten, einschließlich der Nazis, aufgegriffen, was zu ihrem unheilvollen Nachruhm führte.