Warum fahren wir in den Urlaub?
Viel zu vielen Menschen an diesem Strand ... Warum tun wir uns Jahr für Jahr diese massentouristische Hölle an? Vier philosophische Erklärungen für unsere Ferien.
„Um uns selbst zu entfliehen“ Seneca (ca. 1–65 n. Chr.)
Was an uns nagt, ist die Fülle. Eine anhaltende Unzufriedenheit, die uns nichts genießen lässt. Schuld daran ist die Unentschlossenheit: Wir wissen nicht, was wir wollen. Wir finden keinen Umgang mit unseren Wünschen und sind sowohl unfähig, ihnen nachzugeben, als auch sie zum Schweigen zu bringen („Über die Ausgeglichenheit der Seele“). Vergebens suchen wir also uns selbst zu entfliehen: „Infolgedessen unternimmt man Reisen ohne Ziel, eilt unstet von Küste zu Küste, und eine immer mit der Gegenwart unzufriedene Leichtfertigkeit versucht sich bald auf dem Meer, bald auf dem Land.“ Aber diese Urlaubsfreuden sind trügerisch: Das Glück besteht nicht darin, sich in der Fremde abzulenken, sondern im Akzeptieren dessen, was uns geschieht, ganz jenseits von falschen Fluchten und Hoffnungen („Briefe an Lucilius“).
„Um fremd zu sein“ Michel de Montaigne (1533–1592)
Wenn Michel de Montaigne reist, so tut er das, um Unbekanntes zu finden, um sich fremden Sitten und anderen Reizen auszusetzen. Für jene Menschen, die sich „nicht in ihrem Element“ fühlen, „sobald sie ihr Dorf verlassen“, empfindet er nichts als Verachtung („Essais“). Solche Reisende lieben eigentlich nur die Rückkehr, das engstirnige Vergnügen, wieder bei sich zu Hause zu sein. Im Gegensatz dazu sucht Montaigne keine „Gascogner auf Sizilien“, sondern „vielmehr Griechen und Perser“, andere und Andersartige, denn nur wer „sein Hirn“ gegen dasjenige von anderen „reibt und schleift“, so der Franzose, lernt wirklich er selbst zu sein. Und nur wer Umgang mit vielen anderen gepflegt hat, ist ein Mensch, mit dem man auch Umgang pflegen sollte, denn: ein „anständiger Mensch ist ein durchmischter Mensch“.
„Um allein mit uns zu sein“ Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
Rousseau ist der Philosoph des süßen Nichtstuns, das darin besteht, von der Realität selbst Urlaub zu nehmen. Das Ziel ist, nichts zu tun und nichts zu denken und vollkommen im Jetzt zu leben; und sich weder von Äußerem ablenken noch sich zwischen Erinnerungen an Vergangenes und Sorge um Zukünftiges zerreiben zu lassen. Dann wird die Zeit selbst zum Urlaub, zur Leere: eine Art Zwischenraum, wo man die schlichte Tatsache, am Leben zu sein, ohne Verlangen oder Furcht genießen kann. „Solange dieser Zustand anhält, kann derjenige, der darin ist, sich glücklich schätzen“ („Träumereien eines einsamen Spaziergängers“). Existenzielle Blase oder regressiver Rückzug: Das süße Nichtstun ist nichts anderes als das Vergnügen, ganz mit sich alleine zu sein.
„Um Postkarten zu verschicken“ Jacques Derrida (1930–2004)
Keine Ferien ohne Postkarten! Was aber durchaus keine leichte oder banale Übung ist: Schließlich fordert dieses kleine Stück Karton eine ebenso spontane wie präzise Schreibweise, die in kürzester Form Wesentliches ausdrückt. Jacques Derrida zufolge ist die Postkarte ein Brief, der nicht lügt, der auf das Wesentliche reduziert ist, nämlich auf „den Himmel und die Erde, die Götter und die Sterblichen“, so schreibt er in „Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits“. Alles daran ist wichtig: die Nachricht, das Bild, die Adresse, die Bildunterschrift. Derrida vertritt eine Philosophie der Postkarte; sie erfordert, alles auf wenigen Zentimetern Kartenpapier unterzukriegen, bis hin zur brennenden Frage: „Liebst du mich?“ •
Weitere Artikel
Die Hölle, das sind die Anderen?
Wohin man auch blickt: überall Andere! Nicht immer ist ihre Anwesenheit ein Segen: Allzu oft stören sie, nerven, machen einem das Leben gar regelrecht zur Hölle. Andererseits, wer wollte ernsthaft ohne andere Menschen leben? Ohne deren Berührung, Mitgefühl, Inspiration? Besonders herausfordernd ist der Andere in seiner Rolle als kulturell Fremder. Was tun? Tolerieren, diskutieren, drangsalieren – oder ihn einfach mutig ins Herz schließen? Fragen, die direkt in das Zentrum unserer modernen Einwanderungsgesellschaften führen.
Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Adornos Strandkorb
Der Badeanzug sitzt, die Sonne scheint mit hochsommerlicher Kraft und auf dem Stück Himmel, das die Urlaubsaufnahme zeigt, ist nicht eine Wolke zu sehen.
Valentin Groebner: „Was hat Tourismus mit gutem Leben zu tun?“
Trotz Pandemie fahren Millionen Menschen gerade in den Sommerurlaub. Der Historiker Valentin Groebner erklärt im Interview, warum wir in den Ferien einer Ego-Fiktion folgen, dass Reisen seit jeher auf ökonomischen Differenzen beruht und unser Bedürfnis nach Selfies gar nicht so neu ist.

Kleine Menschen, große Fragen
Oft stellen Kinder nicht nur sehr gute Fragen, sondern haben auch besonders geistreiche Antworten. In unserer Rubrik Phil.Kids widmen sich kleine Menschen regelmäßig den ganz großen Rätseln des Seins wie: Warum fahren Erwachsene in den Urlaub? Wann hat man etwas verstanden? Und sollte man immer machen, was andere einem sagen?

Warum verschieben wir alles auf morgen?
Sie haben Ihre Neujahrsvorsätze bereits vertagt oder lesen diesen Text, obwohl Sie eigentlich E-Mails abarbeiten, Wäsche waschen, die Steuererklärung erledigen müssten? Doch warum prokrastinieren wir überhaupt? Hier vier philosophische Erklärungen.

Warum leben wir nicht nackt?
Nackt werden wir in die Welt geworfen, doch dabei bleibt es gewöhnlich nicht lange: Warum das so ist, dafür haben Philosophen ganz verschiedene Erklärungen geliefert
Emmanuel Carrère: "Empathie hat perverse Effekte"
Das Werk des großen französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère changiert zwischen Roman, Autobiografie und philosophischer Meditation. Ein Gespräch über die Hölle der Ironie, russischen Wahnsinn und das Reich Gottes in unserer Mitte.