Was zieht uns an den Strand?
Jetzt, da wieder gereist und geurlaubt werden darf, stellt sich eine Frage ganz besonders: Was ist es eigentlich, das den Strand zu einem Sehnsuchtsort macht? Thales von Milet, Immanuel Kant und Albert Camus geben Antworten.
„Der Wunsch nach Heimkehr“
Thales von Milet (6.-7. Jh. v. Chr.)
Der Überlieferung zufolge hat Thales gelehrt, das Wasser sei der Ursprung (archē) und das Endziel allen Seins. Der Vorsokratiker aus Milet, der oft als erster Denker der abendländischen Philosophie bezeichnet wird, ist davon überzeugt, dass die Erde wie ein Treibholz auf einem riesigen Ozean umherschwimmt. Wann immer die Wellen dieses Meeres die Welt in Bewegung setzen, entstehen Winde und Erdbeben. Doch nicht nur die Welt als Ganze, sondern auch jedes Leben in ihr besteht aus Wasser, teils in verfestigter und teils in verflüssigter Form. Mittlerweile weiß jedes Schulkind, dass der Mensch zu etwa 70 % aus Wasser besteht und auch die evolutionäre Entwicklung aller Tiere und Pflanzen aus den Ozeanen ist bekannt. Thales geht jedoch weiter: Für ihn ist das Wasser als ewiger Urgrund des Kosmos gottgleich, da es „weder Ursprung noch Ende“ hat. Und da alles dem Wasser entstammt und letztlich nichts anderes ist als Wasser in fester oder flüssiger Form, ist alles „voll von Göttern“. Was bedeutet das nun für den Strandbesuch? Wer das eigene Pistazien-Eis in der Sommerhitze dahinschmelzen sieht, wird Zeuge eben jenes Vorgangs, der die Welt erschaffen hat und eines Tages wieder verschwinden lassen wird, die Verfestigung und Verflüssigung des kosmischen Urstoffes. Und wer hinabtaucht in die Wogen des Meeres, der fühlt sich geborgen in der Umarmung des Wassers. Denn der Strandbesucher ist nicht nur vergnügungswillig und bräunungsaffin: Er ist immer auch ein Heimkehrer.
„Unser Wohlgefallen am Erhabenen“
Immanuel Kant (1724-1804)
Wer einen „schönen Tag am Strand“ verbringen möchte, dem würde der Königsberger Philosoph vermutlich vorhalten, das Wesentliche zu verpassen. Der „grenzenlose Ozean“ ist, wie er in der Kritik der Urteilskraft schreibt, nämlich gerade nicht „schön“, sondern „erhaben“. Das Schöne reizt uns durch seine Form. Sei es der zwitschernde Gesang eines Vogels oder die anmutige Linienführung einer Tattoo-Virtuosin: Schönheit wird stets durch Qualität hervorgerufen, durch eine vollkommene Gestalt, die wir als „Gefühl der Beförderung des Lebens“ erfahren. Das Erhabene wirkt hingegen durch schiere Quantität, durch eine Überforderung unserer sinnlichen Wahrnehmung. Lassen wir den Blick über das Meer schweifen, so können wir noch so sehr versuchen, seine Größe zu schätzen und das entlegene Ufer zu erspähen, es gelingt uns nicht. Uns wird schmerzlich bewusst, wie sehr wir als körperliche Wesen dem Ozean unterlegen sind. Doch als Menschen sind wir nicht nur körperliche Wesen, sondern immer auch Vernunftwesen. Und je stärker wir uns in unserer Stofflichkeit eingeschüchtert fühlen, umso deutlicher ergreift uns die Gewissheit unserer geistig-moralischen Überlegenheit. Empfänglich sind wir für diese Einsicht aber nur, wenn wir uns in Sicherheit befinden. Der Schiffbrüchige und die strauchelnde Extrem-Bergsteigerin begegnen in erster Linie dem Bedrohlichen, nicht dem Erhabenen. Das nämlich lässt sich nirgends besser verspüren als am Badestrand. Mit dem Horizont vor Augen und dem weichen Sand zu Füßen.
„Die Sehnsucht nach Erlösung“
Albert Camus (1913-1960)
Zu Beginn der Fünfzigerjahre notiert sich der französische Existentialist zehn Lieblingswörter in sein Tagebuch. Darunter befinden sich zum Beispiel „Welt“, „Schmerz“ und „Elend“, was bei seinem melancholischen Gemüt nicht weiter verwundert. „Sommer“ und „Meer“ lassen dagegen aufhorchen. Hineinzugleiten in das warme Wasser des Meeres erscheint dem Atheisten Camus als eine geradezu spirituelle Erfahrung tiefster Glückseligkeit. Denn wer in „lauer Wärme“ schwimmt, schreibt er in Der glückliche Tod, der „verliert sich“ um sich „wieder zu finden“, der vermag es, den „tiefinneren Gesang seines Glückes zum Ertönen“ zu bringen. Das befriedigende Glücksgefühl des Badenden ist dabei weit mehr als nur die erquickende Freude am kühlen Nass: Indem wir „mit allen Gerüchen der Erde behaftet“ in das Meer tauchen, werden wir die sinnlichen Zeugen einer kosmischen Vereinigung, der Umarmung von Meer und Erde, „nach der beide so lange schon verlangen“, so heißt es in der Hochzeit des Lichts. Der Mensch wiederum verlangt nach Sinn, der ihm in seiner absurden, also sinnleeren Welt verwehrt bleibt. Auch inmitten seichter Wellen findet er diesen Sinn nicht. Doch für wenige Augenblicke scheint er zumindest von der Suche danach entbunden zu sein. In diesen Augenblicken, in denen der Mensch sanft durch das warme Wasser strömt, eröffnet sich ihm eine Vorahnung auf die einzige wirkliche Erlösung, die das Leben in gottloser Welt bereithält: Der „Zauber des Todes“ (Reisetagebücher) lässt den Badegast aufatmen. •