Immanuel Kant: „Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss“
Ist Arbeit eine Notwendigkeit, ein Vergnügen oder eine Pflicht? Immanuel Kant hat sich für die dritte Option entschieden. Es folgt eine Erklärung, ausgehend von einem Zitat aus Über Pädagogik.
„Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss“
– Immanuel Kant in Über Pädagogik (1803)
Warum sollte man arbeiten? Es gibt viele mögliche Antworten auf diese Frage. Meist erscheint Arbeit als eine wirtschaftliche Notwendigkeit, zu der wir gegen unseren Willen gezwungen werden, um ein Gehalt zu verdienen – und somit nicht mehr arbeiten zu müssen und die Freizeit zu genießen, die wir uns in gewisser Weise erkauft haben. Im besten Fall besteht unser Freiheitsspielraum nur darin, dass wir die Fähigkeit haben, eine bequemere oder interessantere Arbeit zu wählen, d. h. eine Arbeit, die unseren Charakterdispositionen entgegenkommt. Immanuel Kant (1724–1804) schlägt jedoch einen ganz anderen Ansatz vor, wenn er die Arbeit nicht als Zwang, sondern als eine echte Pflicht im moralischen Sinne bezeichnet.
Dabei ist die zentrale Frage, was die Quelle einer solchen Pflicht ist. Woher kommt sie? Aus einem Gebot, das von Gott stammt? Aus einer sozialen Notwendigkeit, um sich für andere nützlich zu machen? Aus einer Forderung der Vernunft selbst? Kant erläutert dies hier nicht, auch wenn er sich im weiteren Verlauf des Textes in einer Art absurdem Gedankengang vorstellt, was mit Adam und Eva passiert wäre, wenn sie im Paradies geblieben wären. Hätten sie Hirtenlieder gesungen und die Natur genossen? Nein, antwortet Kant und meint: „Langeweile würde sie gewiß (...) gemartert haben.“ Und er fügt hinzu, dass der Mensch durch Arbeit „okkupiert“ sein müsse. Das bedeutet, dass das, was als göttliche Strafe angesehen wird, eher als Segen betrachtet werden sollte, der es dem Menschen ermöglicht, sich vor der Nichtigkeit eines müßigen und eitlen Daseins zu retten.
Hier bin ich Mensch, hier stemple ich ein!
Wir müssen jedoch nicht oder nicht nur arbeiten, um Langeweile zu vermeiden, uns die Zeit zu vertreiben und der Leere des menschlichen Daseins zu entfliehen – denn sonst wäre Arbeit eher ein existenzielles Bedürfnis als eine moralische Pflicht. Zum Verständnis sei angemerkt, dass das hier diskutierte Zitat im Zusammenhang mit Kants Überlegungen zur Erziehung steht, konkret findet es sich auf einer Seite, die der Kindererziehung gewidmet ist. Das liegt daran, dass Arbeit grundsätzlich eine pädagogische Dimension hat, die es jedem ermöglicht, seine Fähigkeiten zu entwickeln, Fortschritte zu machen und sich zu verbessern. Während das, was Tiere und Maschinen tun, keine Arbeit im eigentlichen Sinne ist, da es sich lediglich um instinktive Produktion und mechanische Tätigkeit handelt, ist der Mensch grundsätzlich unvollständig sowie verbesserungsfähig und benötigt daher als einziger unter allen anderen Tieren Kultur und Bildung, um voll und ganz Mensch zu werden und die Menschlichkeit in sich zu entwickeln.
In dem Maße, in dem sie diese Selbsterziehung ermöglicht – was, wie leicht zu erkennen ist, unter realen Arbeitsbedingungen nicht immer der Fall ist –, hat die Arbeit also alles, was eine moralische Tugend ausmacht. Sie ermöglicht die Erfüllung und Entfaltung des Arbeitnehmers durch die Anstrengungen, die sie von ihm verlangt. Was für Kinder gilt, gilt auch für Erwachsene: Wenn sie sich selbst überlassen werden, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie sich von sich aus die Mühe machen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, da ihr Hang zur Freiheit zu groß ist. Im Gegenteil: „Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch.“ Es ist also verständlich, dass diese Pflicht bei Kant zu einer spezifischen moralischen Auffassung der menschlichen Natur gehört, die grundsätzlich auf das Gute ausgerichtet ist.
Die Arbeit wird uns also nicht unbedingt glücklich machen, aber zumindest wird sie uns würdig machen, d. h. durch sie können wir einer bestimmten Auffassung von Menschlichkeit gerecht werden. Und was ist mit der Ruhe und Pausen, wird man vielleicht fragen? Hier ist Kants Antwort klar: Die einzige schätzenswerte Erholung ist diejenige, die am Ende der Arbeit als deren Belohnung steht. Ein bisschen wie ein wohlverdienter Ruhestand? •
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