Warum schreiben wir Tagebuch?
Viele Menschen vertrauen ihre Geheimnisse einem Tagebuch an. In unseren Lösungswegen erklären wir anhand vier großer Denker, weshalb sich das intime Schreiben nach wie vor so großer Beliebtheit erfreut.
Ludwig Wittgenstein
(1889–1951)
„Um Geheimnisse zu hüten“
Dem Tagebuch können wir Gedanken anvertrauen, die wir anderen lieber nicht preisgeben. Schweigsam wie es ist, hütet es auch die verwegensten Geheimnisse. Was aber, wenn es jemand anderem in die Hände fällt? Ludwig Wittgenstein traute seinen Mitmenschen wohl nicht recht über den Weg, entschied er sich doch dazu, besonders private Passagen seines Tagebuchs in Geheimschrift aufzuzeichnen. So gesteht der 47-jährige Wittgenstein voller Scham: „Ich bin noch heute, wie als kleiner Bub beim Zahnarzt.“ Zum Glück hat er nie erfahren, dass seine Schrift einige Jahre später entschlüsselt – und seine Angst vor dem Zahnarzt somit der Allgemeinheit bekannt wurde.
Walter Benjamin
(1892–1940)
„Um uns zu erinnern“
Am 10.12.1927 notiert Walter Benjamin folgende Zeilen in sein Moskauer Tagebuch: „Ich lese in meinem Zimmer Proust, fresse dazu Marzipan.“ Eine, wie es scheint, unbedeutende Anekdote – doch schließt nicht gerade das Nebensächliche, Jahre später gelesen, mitunter ganze Welten auf? Erst im Rückblick wird uns klar, was uns eine bestimmte Lebenssituation wirklich bedeutet hat. Das Tagebuch erfüllt für Benjamin den Zweck, „nachträglich einiges herausheben und aufheben“ zu können. Was aufgeschrieben ist, geht nicht verloren. Das Tagebuch erinnert uns daran, wer wir einmal waren und wer wir geworden sind. Es ist unser Begleiter im Kampf wider das Vergessen.
Hannah Arendt
(1906–1975)
„Um zu denken“
Denktagebuch nannte Hannah Arendt ihre Sammlung aus 28 dicht beschriebenen Heften. Das ist wenig überraschend für eine Frau, deren Ziel es immer war „zu verstehen“ – auch dasjenige, das auf den ersten Blick unerschließbar scheint. Wie wurde totalitäre Gewalt möglich und was können wir ihr entgegnen? Denken und (politisches) Handeln sind für Arendt untrennbar. Was die beiden Bereiche zusammenführt, ist die „Mitteilung“ – auch an sich selbst. Denn „ohne dieses Zum-Wort-Werden“ könnte man, so Arendt, „den Schock der Wirklichkeit nicht aushalten“. Denken, um zu verstehen, verstehen, um zu handeln. Hierbei kann uns das Tagebuch zur Seite stehen.
Roland Barthes
(1915–1980)
„Um zu trauern“
Verliert man einen wichtigen Menschen, fühlt sich plötzlich alles sinnlos an. Wie soll es weitergehen ohne dich? Und weshalb habe ich dir nie gesagt, wie viel du mir bedeutest? Fragen spuken im Kopf herum, ohne beantwortet werden zu können. Wer kann helfen? Das Tagebuch. Roland Barthes, der zeitlebens mit seiner Mutter Henriette unter einem Dach gelebt hat, schrieb nach deren Tod ein Tagebuch der Trauer. Die Wohnung still und leer, wurde er sich selbst im Schreiben zum tröstenden Zuhörer. Aus der Stummheit über das Geschehene schuf er eine Stimme. Und: „Wer weiß, vielleicht findet sich doch noch ein wenig Gold in diesen Aufzeichnungen.“ •
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