Was heißt hier Meinungsfreiheit, Frau Frick?
Wer über Meinungsfreiheit streiten will, muss erst einmal klären, was eine Meinung überhaupt ist. Was unterscheidet sie von Wissen? Und wann wird sie moralisch problematisch? Ein Interview mit der Philosophin Marie-Luisa Frick.
Frau Frick, von John Stuart Mill stammt der Satz, dass die Unterdrückung einer Meinung „Raub an der Gemeinschaft aller“ sei. Was hat der britische Philosoph im 19. Jahrhundert damit gemeint?
Mill macht uns auf einen Aspekt aufmerksam, den wir oft übersehen. Denn es geht nicht nur darum, die Rechte derjenigen Menschen zu schützen und für sie einzutreten, die sich in einer demokratischen Öffentlichkeit zu Wort melden. Es geht auch um die Informationsrechte der Empfänger. Das ist oft, wenn wir über Cancel Culture und solche Debatten sprechen, gar nicht im Bewusstsein, wer da eigentlich noch geschädigt ist. Diskursverengungen betreffen uns alle.
Allerdings gab es bis vor Kurzem noch einen US-amerikanischen Präsidenten, der lange und beharrlich behaupten durfte, die Wahl sei gefälscht gewesen.
Grundsätzlich gilt in den USA verfassungsrechtlich eine sehr große Meinungsäußerungsfreiheit: Man kann wirklich fast alles sagen. Es gibt nur ganz wenige juristische Einschränkungen, etwa, wenn man Drohungen oder Verleumdungen ausspricht. Ansonsten darf jede verrückte Meinung, jede falsche Einschätzung, auch von Tatsachen, völlig frei geäußert werden und wird nicht belangt. Womit sich natürlich speziell mit Blick auf Trump ganz grundsätzlich die Frage stellt, was eine Meinung eigentlich genau ist.
In der Philosophiegeschichte wird zwischen Meinung und Wahrheit, Meinung und Wissen differenziert. Was genau ist der Unterschied?
Zumindest wenn man keinen schrankenlosen Relativismus vertritt, sind diese Unterscheidungen wichtig. Tatsachenbehauptungen kann man bestätigen oder widerlegen. Ob etwa Unregelmäßigkeiten bei Wahlen Ausdruck systematischen Betrugs sind, das lässt sich potenziell entscheiden. Eine Meinung als weltanschauliche Position aber kann man weder widerlegen noch beweisen, und daher soll sie leben dürfen unter anderen solchen Positionen. Auch jetzt, in der Coronapandemie gibt es etwa zum Thema Impfen verschiedene Meinungen. Was möchte ich mit meinem Körper machen? Wie wichtig ist mir Gesundheit? Wie lange möchte ich leben? Wie gehe ich mit Risiken um? Aber es ist eben keine Meinung, wenn Jair Bolsonaro andeutet, dass Frauen ein Bart wächst, wenn sie sich impfen lassen. Da muss man differenzieren.
Aber kann es sich nicht auch um eine Diffamierung von Meinungen handeln, wenn man sie als Verschwörungstheorie oder als Fake News bezeichnet?
In der Tat, das ist ein heikler Punkt: Man kann mit solchen Etiketten Menschen und Meinungen tatsächlich sehr effektiv in die Schmuddelecke stellen. Wir sollten daher sehr vorsichtig mit solchen Zuschreibungen umgehen. Ein Beispiel: Zu fragen, ob SARS-CoV-2 durch einen Laborunfall freigesetzt worden sein könnte, ist keine Verschwörungstheorie. Zu behaupten, dieses Virus sei von mächtigen Cliquen auf uns losgelassen worden, um uns zu knechten, dagegen schon. Als Philosophen wissen wir, dass verschiedene Wahrheitsverständnisse nebeneinander existieren. Es gibt für viele Fragen schlicht gar keine Möglichkeit, über verschiedene Disziplinen hinweg zu entscheiden, ob etwas wahr ist. Und doch darf man den Problemkomplex nicht kleinreden. Wir haben es heutzutage mit gezielten Desinformationswellen in vielen Bereichen zu tun. Stichwort Pandemie: Es gibt Gruppen, die denken nur darüber nach, wie sie Menschen in Wahnwelten hineinziehen können. Wenn Menschen meinen, sie müssten mit allen Mitteln einer gerechten Sache zum Durchbruch verhelfen, weil „die da oben“ Verbrecher und Dämonen sind, wird Kommunikationsfreiheit zur Gefahr für andere. Gruppen wie QAnon in den USA und inzwischen auch in Deutschland sind letztlich staatsfeindliche Bewegungen, denen klare Grenzen aufgezeigt werden müssen.
Nun spielen in den großen Krisen der Gegenwart die Wissenschaften eine zentrale Rolle. In der Klimakrise wie auch in der Coronakrise beruft man sich auf sie. Was heißt das für die Meinungsfreiheit?
Sicher ist Empirie wichtig, aber wir können von den Wissenschaften keine abschließenden Wahrheiten erwarten. In der Pandemie beobachten wir täglich, wie Wissenschaftler um Erkenntnisse ringen und sie immer wieder revidieren. Umso problematischer ist es, wenn aus naturwissenschaftlicher Forschung unmittelbar politische Entscheidungen abgeleitet werden. Es fehlt uns und auch den sogenannten Meinungsbildern, also Journalisten, oft ein Verständnis dafür, was Wissenschaft eigentlich ist. Hier sehe ich einigen Nachholbedarf.
In Deutschland gibt es den Vorwurf, die Medien würden bestimmte Meinungen nicht zu Wort kommen lassen. Coronaskeptiker oder Impfgegner zum Beispiel. Sehen Sie die Gefahr einer Diskursverengung?
Ich sehe die Gefahr, dass man Menschen keine Urteilsfähigkeit mehr zutraut, ja. Das ufert leicht in Kampagnenjournalismus aus. Das ist eine Art des Paternalismus, der mit dem demokratischen Ideal der Autonomie politischer Subjekte nicht übereinstimmt. Extremistischen Verführern muss man klare Kante zeigen. Konflikte zwischen Meinungen, etwa über die Coronapolitik, müssen hingegen in Demokratien möglich sein und sich auch diskursiv abbilden.
Ist der deutsche Umgang mit Meinungsfreiheit geschichtsbedingt anders als in den USA?
Das kann man sicher so sehen. Die Achtung der Menschenwürde ist im deutschen Grundgesetz von 1949 verankert. Dass man die Grenzen des Sagbaren mit der Würde des Menschen begründet und auf die Einhaltung dieser Grenzen besonders bedacht ist, ist auch ein Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit. In den USA gibt es keine solche Verankerung der Würde in der Verfassung. Daher liegt hier tatsächlich ein Unterschied, wobei sich Kräfte in den USA, die sich als progressiv verstehen, gegenwärtig immer stärker auf die Würde beziehen. Denken Sie an die Black-Lives-Matter-Bewegung, wo es explizit um die verletzte Würde der schwarzen Bevölkerung, nicht zuletzt durch Begriffe, geht. Auch an Universitäten in den USA wird die Grenze des Sagbaren entsprechend enger gezogen.
In den USA, aber auch in Großbritannien gibt es Fälle von sogenannter Cancel Culture: Personen werden wegen ihrer Meinungen boykottiert, gar entlassen. An der englischen Eliteschule Eton war der Anlass ein kritischer Vortrag über Gender Studies.
Das ist richtig. Und die Frage ist, wo Cancel Culture beginnt. Oft haben wir es ja mit einem Schneeballeffekt zu tun: Die feministische, US-amerikanische Philosophin Christina Hoff Sommers etwa wurde von Studierenden daran gehindert, ihre Vorlesung zu halten, weil sie sich gegen einen „Opfer-Feminismus“ ausgesprochen hat, wie sie es ausdrückt. Das heißt noch nicht, dass sie von allen Kollegen, von der ganzen Uni und von allen anderen Feministinnen boykottiert würde. Es kann aber passieren, dass sich so eine Dynamik entwickelt: Moralische Vorwürfe können eine Person nachhaltig beschädigen.
Sind solche Fälle eher die Ausnahme oder ein ernsthaftes Problem?
Derzeit erscheinen sie mir als Einzelfälle, aber dahinter lassen sich bereits Muster erkennen. Wir sollten also aufpassen, dass daraus nicht tatsächlich eine „Kultur“ entsteht. Heikel wird es, wo bestimmte Positionen systematisch delegitimiert werden, etwa die, wonach es nicht reicht, Israels Palästinenserpolitik zu kritisieren, ohne auch Druck aufzubauen. Erinnern wir uns nur an den Umgang mit Achille Mbembe in Deutschland aufgrund seiner Nähe zur BDS-Bewegung. Hier zeigt sich übrigens, dass die Engerfassung von Meinungsfreiheit an manchen Universitäten nicht einfach einem amerikanischen Trend folgt. Dort gehört Unterstützung von BDS unter „Progressiven“ zum guten Ton. Deshalb jemanden ausladen würden nur die „Rechten“.
Noch mal zurück zu Mill: Kann die Unterdrückung von bestimmten Meinungen, gar die Diffamierung von Personen nicht auch ein Dienst an der Menschheit sein? Viel diskutiert sind ja auch die zahlreichen gezielten Tabubrüche der AfD. Stichwort: Nationalsozialismus als „Vogelschiss“.
Mill selbst würde dazu wohl sagen, dass solche Meinungen, auch wenn sie unerträglich, gefährlich und dumm sind, uns die Gelegenheit geben, darüber zu diskutieren, was seriöse Politik ist – und was einfach jenseitig. Man kann zu Themen wie Nationalsozialismus und Holocaust nicht einfach rausposaunen, was einem gerade in den Sinn kommt. Das Problem mit dieser Aussage ist ja, dass sie eine politische Anstandsverletzung ist, da sie den angebrachten Ernst, in einem philosophischen Sinne verstanden, völlig vermissen lässt. Für Mill und andere Liberale gibt es nur eine echte, wenn auch oft unklare Grenze der Meinungsfreiheit: den Schaden für andere Menschen. Nur dann dürfen Gesetze Grenzen ziehen, alles andere bleiben moralische Grenzen.
Und wer legt fest, was eine moralische Grenze ist?
Es gibt nicht die eine Moral. Es gibt vielleicht die geteilte Moral einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft. Es gibt vielleicht auch Ihre und meine Moral. Und genau in diesem Bewusstsein sollte man solche Grenzüberschreitungen sichtbar machen und gegebenenfalls auch sanktionieren durch Beschämung oder Kritik, aber eben im Bewusstsein, dass diese Moral, die ich habe, nicht die einzige ist und nicht die einzige maßgebliche sein kann. Vielmehr muss ich sie mit anderen Moralsystemen und Moralvorstellungen in ein Verhältnis setzen.
Und was ist mit universalen Kriterien wie etwa Respekt und Achtung?
Ich habe Probleme damit, wenn man so tut, als hätte man die Deutungshoheit über solche Begriffe. Ich kann natürlich sagen, dass eine Meinung mein Verständnis von menschenrechtlichem Grundrespekt verletzt. Aber ich muss eben auch sagen können, was ich darunter verstehe und warum ich glaube, dass das so ist. Nichts ist schlimmer, als Redner in der politischen Öffentlichkeit zu sanktionieren, ohne die Maßstäbe des eigenen Urteilens offenzulegen.•
Marie-Luisa Frick ist assoziierte Professorin am Institut für Philosophie an der Universität Innsbruck. Ihre Bücher zum Thema „Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft“ (2017) sowie „Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess“ (2020) sind beide bei Reclam erschienen.
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