Was heißt verstehen?
Unsere Fähigkeit zu verstehen ist überall und ständig gefordert: im privaten Miteinander wie auch in gesellschaftlichen Debatten. Aber auf welche Weise vollzieht sich das zwischenmenschliche Verstehen? Drei Klassikertexte geben Antwort. Mit einer Einleitung und Kommentaren von David Lauer.
Menschliches Verstehen ist von verwirrender Vielfalt. Wer über Verstehen nachdenkt, denkt vielleicht zunächst an Situationen der Verständigung. Wir verstehen, was Menschen denkend, wollend und fühlend zum Ausdruck bringen, in Worten, Taten, Gesten und Codes, in Texten, Symbolen und Bildern. Aber Verstehen ist nicht notwendigerweise an Verständigung gebunden. Von Verstehen spricht man auch im Hinblick auf ein Begreifen- oder Erklären-Können von Gegenständen und Geschehnissen – man „versteht etwas davon“ oder versteht (nicht), wie dies und jenes passieren konnte. Ein solches Verstehen unterhält enge Beziehungen zum Verstand. (Im Englischen bezeichnet das Wort „understanding“ beides.) Eine weitere Art des Verstehens besteht in einem praktischen Können, in der Beherrschung eines Werkzeugs, einer Technik oder eines Spieles – jemand „versteht sein Handwerk“ oder „versteht sich aufs Toreschießen“. Bedenken wir außerdem noch die Vielfalt der Erscheinungsweisen des Verstehens: Dass und wie eine Pianistin ein musikalisches Thema versteht, wird sich weniger darin zeigen, was sie darüber zu sagen weiß, als vielmehr darin, wie sie es spielt. Und wenn zwei Personen sich „gut verstehen“, wenn die eine sich von der anderen verstanden fühlt, dann zeigt sich dies ebenfalls nicht in Erklärungen, sondern darin, dass sie verständnisvoll miteinander umgehen.
Schon diese wenigen Schlaglichter machen deutlich, dass ein dicht gewebtes Muster aus Verstehen, Verständigung, Verständlichkeit, Verstand und Verständnis unser ganzes Leben durchzieht. Der Philosoph Martin Heidegger erklärt deshalb, dass – in gewisser Weise – unser ganzes Leben Verstehen ist: Verstehen ist kein besonderes Vermögen des Menschen neben anderen Vermögen, sondern die Art und Weise, in der der Mensch alle seine Vermögen besitzt und verwirklicht. Alles, was Menschen tun, tun sie verstehend. Ihre ganze Existenz hat die Form des Verstehens. Heidegger nennt das Verstehen deshalb ein Existenzial – ein grundlegendes Strukturmerkmal unserer Existenz. Definieren lässt es sich nicht. Aber man kann es beschreiben. Verstehen, so zeigt Heidegger auf, hat immer mit dem Erschließen von Bedeutsamkeiten zu tun, die wesentlich auf den verstehenden Menschen selbst, seine Selbstentwürfe, Pläne und Ziele bezogen sind. Das Verstehen erschließt die Welt als einen Gesamtzusammenhang, dem wir nicht neutral beobachtend gegenüberstehen, sondern der uns als fühlende, wollende, handelnde Wesen berührt, angeht, herausfordert. Verstehen im grundlegenden Sinne ist keine theoretische Erkenntnis, sondern ein praktisches, Möglichkeiten ergreifendes Involviertsein in die Welt.
Die philosophische Tradition, die sich am Begriff und Phänomen des Verstehens orientiert, wird philosophische Hermeneutik genannt. Die folgenden drei Klassikertexte markieren Meilensteine ihrer Entwicklung. Alle behandeln das Verstehen im Kontext sprachlicher Verständigung: Wie können wir verstehen, was ein anderer uns sagt?
Friedrich Schleiermacher
(1768 – 1834)
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Das Vertrauen in die Regierung, den eigenen Leib und in zwischenmenschliche Beziehungen ist brüchig. Welche Effekte hat das Misstrauen, das in alle Bereiche vorgedrungen ist? Drei Menschen schildern ihre Erfahrungen.

Elite, das heißt zu Deutsch: „Auslese“
Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
Männer und Frauen: Wollen wir dasselbe?
Manche Fragen sind nicht dazu da, ausgesprochen zu werden. Sie stehen im Raum, bestimmen die Atmosphäre zwischen zwei Menschen, die nach einer Antwort suchen. Und selbst wenn die Zeichen richtig gedeutet werden, wer sagt, dass beide wirklich und wahrhaftig dasselbe wollen? Wie wäre dieses Selbe zu bestimmen aus der Perspektive verschiedener Geschlechter? So zeigt sich in der gegenwärtigen Debatte um #metoo eindrücklich, wie immens das Maß der Verkennung, der Missdeutungen und Machtgefälle ist – bis hin zu handfester Gewalt. Oder haben wir nur noch nicht begriffen, wie Differenz in ein wechselseitiges Wollen zu verwandeln wäre? Das folgende Dossier zeigt drei Möglichkeiten für ein geglücktes Geschlechterverhältnis auf. I: Regeln. II: Ermächtigen. III: Verstehen. Geben wir Mann und Frau noch eine Chance!
Kommentare
Assoziativ stehen mir Schleiermacher und noch mehr Gadamer näher als Dilthey mit der ausgeprägten (selbst)Bewusstseins-Theorie.