Was müssen wir uns zumuten?
Seyran Ateş riskiert für ihren Freiheitskampf ihr Leben. Die Schriftstellerin Thea Dorn ist mit der Frauenrechtlerin befreundet und steht als streitbare Denkerin regelmäßig im Debattenkreuzfeuer. Ein Gespräch über die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit.
Ein Landhotel in Neustrelitz. Hier hat sich Seyran Ateş für ein paar Tage eingemietet, um zu wandern. Thea Dorn ist aus Berlin angereist. Die beiden Frauen kennen sich schon lange. Was die Freundinnen tief verbindet, ist ihre Liebe zur Freiheit; die Angst, sie zu verlieren, ist ein entscheidender Motor für beide – vielleicht sogar die innerste Triebkraft ihres Mutes? Wir nehmen an einem Tisch auf der angenehm beschatteten Terrasse Platz. Am Nebentisch sitzen die drei Personenschützer, die Seyran Ateş seit vielen Jahren auf Schritt und Tritt begleiten.
Philosophie Magazin: Frau Ateş, 1984 haben Sie eine Kugel in den Hals bekommen und wären beinahe gestorben. Wie ist das passiert?
Seyran Ateş: Ich war 21 und arbeitete in Berlin-Kreuzberg in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei. Die Frau, die ich gerade beriet, als der Täter auf uns schoss, ist gestorben. Nachdem ich wieder klar denken konnte, habe ich mir gesagt: Jetzt erst recht. Denn es ist ja unfassbar, dass ich getötet werden soll, weil ich mich für Frauenrechte einsetze! In einem freien Land wie Deutschland. Der Täter war nicht der Ehemann der Getöteten, anders als es einige Medien bis heute erklären. Dabei war es ein politischer Anschlag gegen die Einrichtung. Weder die ermordete Mutter von drei Kindern noch ich kannten den Täter. Die Schüsse galten dem, was wir da machten. Verantwortlich war höchstwahrscheinlich die rechte Organisation der Grauen Wölfe. Dafür gab es viele Indizien. Doch weder das Gericht noch die Ermittlungsbehörden hatten einen großen Drang, den Fall zu lösen. Wären wir von rechten Deutschen angegriffen worden, würden bis heute jedes Jahr am 25. September zum Gedenken an Fatma E. Blumen niedergelegt werden.
Sie sind immer noch in Lebensgefahr. Während wir hier sitzen, passen Männer vom LKA auf Sie auf. Frau Dorn, Sie sind mit Frau Ateş befreundet. Haben Sie jemals als Freundin zu ihr gesagt: Jetzt lass es einfach. Das ist zu gefährlich?
Thea Dorn: Ich bin eher eine Ermutigerin. Aber es gab Phasen, in denen Seyran sich aus gutem Grund nicht mehr getraut hat, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das war, bevor sie Schutz vom LKA bekommen hat. Da sage ich natürlich nicht: „Jetzt hab dich mal nicht so, mach weiter!“ Selbstverständlich hatte ich damals größtes Verständnis, dass diese ganzen Anfeindungen und Drohungen Seyran irgendwann zu viel geworden sind und sie sich zurückgezogen hat. Allerdings werde ich in solchen Momenten zornig: darauf, dass so etwas in unserer freiheitlichen Gesellschaft geschieht. Auch auf ein sich für emanzipiert haltendes Milieu, das Seyran häufig als Nestbeschmutzerin hinstellt nach dem Motto: Was prangert die auch Missstände innerhalb der muslimischen Community an, anstatt sich mit deutschem Rassismus zu beschäftigen?
Ateş: Thea ist da, wenn ich wirklich verzweifelt bin. Ich schätze es sehr, dass Thea mir nicht vorschreiben will, was ich zu tun habe, sondern den ganzen Komplex mitdenkt, für den ich mein Leben lang gekämpft habe. 2003 wurde ich bedroht, weil ich mich dafür eingesetzt habe, dass die Zwangsheirat als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird, was seit 2011 auch der Fall ist. 2006 musste ich meine Anwaltskanzlei zeitweise schließen, weil ich sehr ernst zu nehmende Morddrohungen erhielt. Damals bot man mir den Personenschutz an, den ich heute noch habe. Über die Situationen, in denen ich wirklich am Boden war, konnte ich in der Öffentlichkeit gar nicht sprechen.
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