Wolfram Eilenberger: „Philosophie kann direkt in die Existenz eingreifen“
Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Ayn Rand und Simone Weil: Das sind die Protagonstinnen in Wolfram Eilenbergers neuem Buch Feuer der Freiheit. Schon in Die Zeit der Zauberer, dem zum Weltbestseller avancierten Vorgänger, hatte Eilenberger Leben und Denken von vier Geistesgrößen zusammengeführt. Damals waren es Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Nun also vier Frauen, die ihr Denken in den finsteren 1930er und 40er Jahren entwickeln. Ein Gespräch mit dem Autor über ein Jahrzehnt, in dem die Welt in Scherben lag - und vier Philosophinnen, die die Freiheit verteidigten.
Im Titel Ihres Buches, Feuer der Freiheit, schwingt ja eine gewisse Portion Pathos mit. Kommt die automatisch auf, wenn man sich philosophisch mit dem Thema Freiheit in der Zeit von 1933 bis 1943 befasst?
Man kann sicher sagen, dass die Frage der Freiheit für diese zehn Jahre keine Frage unter anderen war. Es war die Frage. Das „Feuer der Freiheit“ spielt aber natürlich auch auf die mythische Gestalt des Prometheus an, der das Feuer der Erkenntnis und der Selbstbestimmung von den Göttern stiehlt. Denn in den 1930ern wird die individuelle Handlungsfreiheit politisch enorm bedroht. Die vier Protagonistinnen des Buches – Simone Weil, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Ayn Rand – kommen in Druckverhältnisse, die sie über die Frage nachdenken lässt, was es heißt, ein freier Mensch zu sein. Und zwar ein freier Mensch zusammen mit anderen Menschen. Und das ist eine Frage, die uns auch heute beschäftigt: Inwieweit ist meine Freiheit mit der Freiheit der anderen kompatibel – oder vielleicht auch nicht. Denn dieses Feuer ist ja nicht nur etwas Positives, sondern kann auch etwas Gefährliches sein. Wenn es nicht kontrolliert wird, brennt es alles nieder.
Wie hat sich vor diesem Hintergrund die Auswahl der vier Protagonistinnen ergeben?
Das Buch ist Teil einer Trilogie, die eine Art Alternativgeschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu schreiben versucht, in der die Philosophie vor allem als Existenzmodell gesehen wird. Das traf auf die Personen in Zeit der Zauberer zu – Heidegger, Benjamin, Wittgenstein und Cassirer – und es trifft auch auf die Protagonistinnen in Feuer der Freiheit zu, weil keine von ihnen akademische Philosophin sein wollte. Das große Thema ist also, dass Philosophie in der Existenz verkörpert wird, dass sie nicht als eine Disziplin, sondern als eine Art Aktivität verstanden wird. Und diese vier Frauen, die aus ganz unterschiedlichen intellektuellen und lebensweltlichen Prägungen kommen, geraten dabei allesamt in den Sog der großen Zeitgeist-Fragen, vor allem jene nach dem Verhältnis von Kollektiv und Individuum. Letzteres wird in dieser Zeit doppelt bedroht, durch den Nationalsozialismus auf der einen, den Stalinismus auf der anderen Seite. Das ist die politische Konstellation. Die philosophische aber lautet zeitgleich: Wie lässt sich Autonomie, ein liberales Denken in einer Zeit begreifen, in welcher der klassische Subjektbegriff der Aufklärung zusammengebrochen ist. Von diesem Punkt aus denken sie weiter. Und was sie dabei eint: Sie befinden sich in einer Situation dreifacher Marginalisierung: Sie sind Intellektuelle, Frauen und – bis auf Simone de Beauvoir – Jüdinnen. Das verleiht ihnen einerseits eine Paria-Position, die mit vielen Zumutungen verbunden ist, andererseits ermöglicht ihnen dieses Außenseitertum aber auch eine spezifische Freiheit im Denken. Und diese Freiheit kultivieren alle vier in faszinierender Weise.
Was tatsächlich bei der Lektüre auffällt: Bei allen beeinflusst das Denken ganz konkret die Gestaltung der eigenen Existenz. Beauvoir spricht einmal davon, dass die Philosophie für sie „lebendige Realität“ sei. In solch enger Verknüpfung findet man das heute vermutlich nur noch selten.
Es gibt schon noch Bereiche der Philosophie, die direkt in die Existenz eingreifen. Nehmen sie etwa die Tierethik. Peter Singer könnte kein Fleisch essen, wenn er mit seinem Denken nicht in einen tiefen Widerspruch geraten will. Aber bei den vier Protagonistinnen ist diese Verbindung zwischen Philosophie und Leben natürlich extrem stark. Nachdem Beauvoir sich mit Husserl, Heidegger und Brunschvicg beschäftigt, ändert sich ihren Blick auf die Welt, sie nimmt Menschen buchstäblich anders wahr. Ayn Rand betont schon in ihren ersten philosophischen Tagebüchern, dass es für sie nichts schlimmeres gibt als Menschen, die bestimmte Ideale hochhalten, aber nicht nach ihnen leben. Bei Simone Weil gibt es von Anfang an eine ethische Aufladung der eigenen Existenz, bei der kein Spalt zwischen der eigenen Überzeugung und dem eigenen Handeln passt. Und Hannah Arendt wurde sich Anfang der 1930er Jahre durch ihr Buch über Rahel Varnhagen der Unausweichlichkeit ihrer jüdischen Identität bewusst. Alle werden also durch die Umstände in ihre eigene Politisierung getrieben und nehmen diese dann auch ganz offensiv an.
Dadurch werden auch vielfach alte Überzeugungen über Bord geworfen. Simone de Beauvoir verabschiedet sich etwa vom der früh-existentialistischen Fokussierung aufs Ich und entdeckt die philosophische Bedeutung des Anderen; Simone Weil kommt wiederum vom sozialistischen Gewerkschaftsmilieu zur katholischen Mystik.
Will man zeigen, was Philosophieren für die eigene Existenz bedeuten kann, eignen sich jene Phasen, in denen das Denken an Kontur gewinnt, eigene Stimmen und Zugänge entwickelt werden, natürlich besonders gut. Man kann sehen, wie sich im Alltag das Handeln verändert. Wobei es bei den vier Protagonistinnen des Buchs auch eine Zweiteilung gibt. Ayn Rand und Simone Weil sind gewissermaßen philosophisch auf die Welt gekommen. Beide besaßen schon sehr früh ein unfassbares analytisches Talent und mussten im eigentlichen Sinne nicht mehr viel dazulernen, sondern „nur“ die Widerstände überwinden, die sie davon abhalten, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Hannah Arendt und Simone de Beauvoir hingegen waren extrem entwicklungsfähig. Beauvoir war sich 1933 selbst sehr bewusst, dass sie noch nicht die Stimme hat, die sie gerne hätte. Durch viel Beharrlichkeit und Existenzmut wird sie jedoch zu derjenigen, als die wir sie heute kennen. In ihrer Doktorarbeit dachte Arendt über Augustinus und seinen „Gottesstaat“ nach, was ihr in den1930er Jahren wiederum ermöglichte, diese Gedanken für die Analyse totalitärer Systeme zu gebrauchen.
Simone Weil und Ayn Rand sind hierzulande indes relativ unbekannt, Beauvoir und Arendt hingegen philosophische Ikonen. Woran liegt das?
Zunächst würde ich sagen: Alle vier wurden von der akademischen Philosophie lange als fragwürdig markiert. Und heute noch wäre es nicht allzu leicht, einem analytischen Philosophen in den USA klar zu machen, dass es sich hier um Philosophinnen handelt. Denn der würde womöglich antworten: „Arendt ist Politologin, Beauvoir Feministin, Rand Schriftstellerin und Weil sponn halt einfach.“ Das heißt: die Wahrnehmung, dass es sich hier um Philosophinnen handelt, ist bis heute leider eingeschränkt. Aber es stimmt natürlich: Ayn Rand ist in Deutschland weder als Literatin, noch als Denkerin bekannt. Und was Simone Weil betrifft: Sofern es eines weiteren Indiz’ dafür bedürfte in welch erbärmlich verengten Zustand sich die akademische Mainstream-Philosophie in Bezug auf ihre eigene Geschichte befindet, liegt es in die Tatsache, dass Simone Weils Werke von ihr bis heute weitestgehend außer Acht gelassen werden.
Man merkt Ihrem Buch an, dass sie eine besondere Sympathie für Simone Weil hegen. Was macht ihr Denken so besonders?
Obwohl ich sorgsam versucht habe alle vier Protagonistinnen auf Augenhöhe zu präsentieren, konnte ich nicht ganz von meiner Überzeugung lassen, dass es sich bei Simone Weil um einen der drei, vier größten Geister des 20. Jahrhunderts handelt, die in puncto philosophischer Kraft, Tiefe und Ernsthaftigkeit vielleicht nur mit Wittgenstein vergleichbar wäre. Das wird sofort klar, sobald man auch nur eine Seite von ihr aufschlägt. Es ist ein intellektueller Skandal, dass sie heute praktisch von niemandem mehr gelesen und wahrgenommen wird.
Können sie ein Beispiel geben, worin ihre philosophische Kraft liegt?
In ihrem Essay Ilias oder das Poem der Gewalt, den ich für einen der größten Texte des 20. Jahrhunderts halte, geht es etwa darum, was Gewalt Menschen antut, die sie erleiden, und was Gewalt manchen Menschen antut, die sie ausüben. Liest man Weil beispielsweise vor dem Hintergrund der „Black Lives Matter“-Bewegung, entwickelt man einerseits ein tiefes Verständnis dafür, wie sich eine Unterdrückungserfahrung auf die Psyche von Menschen auswirkt. Aber Weil zeigt auch, was die Gewalt mit den Gewalttätern macht. Und dadurch werden Perspektiven des Verstehens offen. Man begreift etwa, dass jene Menschen, die bei der amerikanischen Polizei tätig sind meist selbst eine erlebte Gewaltgeschichte besitzen, dass es sich also nicht selten um „Drop-Outs“ oder traumatisierte Soldaten handelt, die bereits eine jahrelange Kultivierung der Entmenschlichung hinter sich haben, wenn sie in die Polizei eintreten. Das heißt: Mit Weils Poem der Gewalt werden spezifische Blindheiten markiert, die Handelnde selbst außer acht lassen. Und das in einem Text von zwanzig Seiten, der in einer ungeheuren Klarheit geschrieben ist.
Wobei nicht alles in Weils Denken umgehend klar erscheint, etwa ihre Forderung nach „Ent-Schöpfung“. Was meint das?
Eine leitende Frage des Buches lautet: Was bedeutet der andere für meine Freiheit? Ayn Rand sagt, dass dieser nur als Einschränkung der eigenen Freiheit gedeutet werden kann. Bei Hannah Arendt und Beauvoir gibt es in dieser Zeit die wachsende Überzeugung, dass man durch ein spezifisch kultiviertes, dialogisches Verhältnis zum anderen finden muss. Bei Simone Weil ist der andere, auf den es eigentlich ankommt, indes kein Mensch, sondern ein transzendentes Prinzip – nämlich die Erfahrung Gottes. Das ist eine Form von Andersheit, die heute fast vergessen ist, die aber für die Philosophie mal eine große Rolle gespielt hat. Die Frage, wie ich mich als Subjekt frei finde, wird bei Beauvoir in einer existentiellen Aufladung des Subjektes gesehen, bei Rand fast in einer Vergöttlichung desselben. Bei Weil jedoch – das wirkt zunächst sehr kontraintuitiv – geht es um die „Ent-Schöpfung“ der Subjektivität an sich. Erst, wenn wir nicht mehr wählen müssen, wenn wir nicht mehr „ich“ sind, sind wir im eigentlichen Sinne frei. Das ist sicherlich ein mystischer Gedanke, der nur sehr wenigen Menschen wirklich nahegebracht werden kann. Weil würde vermutlich sagen: Das mag nicht für jedermann sein, aber Gott zu lieben, ist auch nicht für jedermann.
Was bei Arendt, Weil, Beauvoir und Rand auch immer wieder auftaucht, ist die Frage der Identität. Oder genauer: Die Herausforderung mit der äußeren Zuschreibung von Identität umzugehen. Weil fragt etwa danach, wie Nazis überhaupt darauf kommen, dass sie jüdisch sei, da sie doch noch nie eine Synagoge besucht habe, Arendt erfährt ihre jüdische Identität auch erst vollends durch den Antisemitismus der Nazis. Ayn Rand muss nach ihrer Emigration in die USA wiederholt feststellen, dass sie als Ausländerin gesehen wird. Und Beauvoir spricht immer wieder davon, wie sie erst zur Frau gemacht wird.
Ja, alle vier sind von Gruppenzuweisungen betroffen die sie nicht selbst gewählt haben. Und alle vier begreifen auch, dass die Zuschreibung eine Frau zu sein, in dieser Zeit eine bestimmte Wertigkeit in sich trägt. Letzteres machen sie – in dieser Zeit – aber noch nicht zu ihrem Thema. Das hat vor allem damit zu tun, dass sie zunächst damit beschäftigt sind, nicht in den Sog einer totalitären Dynamik zu geraten. Deshalb versuchen sie ihre Individualität zu bewahren oder zu erringen, wissend um die Zumutungen, die es mit sich bringt, als menschliches Dasein unhintergehbar Teil identitätsprägender Kollektive zu sein.
Welche Zumutungen sind das?
Hannah Arendt begreift, was es heißt, eine Jüdin in einem sich totalitär verdichtenden Deutschland zu sein. Simone de Beauvoir versteht, was es heißt, ihr Begehren als bisexueller Mensch in einer Gesellschaft zu formulieren, die Frauen dieses Recht gar nicht zugesteht. Ayn Rand erkennt für sich, dass das, was sie als den Amerikanischen Traum beschreibt, unter Roosevelt in einer Weise gefährdet zu sein scheint, sodass sie im US-Präsidenten des New Deal eine Art Proto-Stalin zu erkennen meint. Und Simone Weil begreift, dass das, was sie zunächst als Solidaritätsbekundung des Kommunismus unterstützt, eine Form der Individualitätsauslöschung ist, die sie unbedingt ablehnt. Das bringt eine Spannung hervor, die ich die „Sokratische Spannung“ nennen würde, also eine Spannung zwischen dem Ich und dem Wir. Der philosophische Ur-Impuls, der alle vier treibt, ist somit ein sozialer: Er betrifft das Verhältnis von mir und den anderen Menschen.
Dass alle vier dabei in intellektuell extrem produktive Phasen geraten, ist ja angesichts der politischen Verhältnisse gar nicht selbstverständlich. Im Gegenteil: Obwohl sich die Welt verdunkelt, bricht bei allen eine äußerste Kreativität hervor. Simone Weil sagt einmal sogar: „Welches Glück, da geboren zu sein, wo einem alles genommen wird.“ Wie ist das zu erklären?
Darauf gibt es, glaube ich, eine psychologische und eine philosophische Antwort. Die psychologische Antwort lautet: Bei allen Vieren handelt es sich um enorm resiliente Menschen, die eine innere Widerstandsfähigkeit besitzen, die für uns heute schwer nachzuvollziehen ist. Bei Hannah Arendt ist es die glückliche Konstellation einer Frohnatur, die sich durch fast nichts in ihrem Leben erschüttern lässt. Bei Simone Weil findet sich eine struwelpeterhafte Widerspenstigkeit gegen alles, von dem sie nicht selbst auch überzeugt wäre. Ayn Rand kultiviert ihr Außenseitertum nach dem Motto „Auch wenn 100 Millionen Menschen das Gegenteil sagen, glaub ich es immer noch nicht, da ich den Grund dafür nicht sehe.“ Und bei Simone de Beauvoir vollzieht in den 1930er Jahren eine lustsuchendes Lebensexperiment, in dem es ihr erst einmal darum geht, sich in ihren den eigenen Begehrensverhältnissen zurecht zu finden. Sowohl als erotisches wie als kreatives Wesen. Gegen alle Widrigkeiten gehen sie also ihren Weg. Was natürlich keineswegs selbstverständlich ist, gerade wenn man bedenkt, dass andere Denker, etwa Walter Benjamin, unter dem Druck der politischen Verhältnisse schlicht zusammenbrechen.
Und die philosophische Antwort?
Alle vier haben eine philosophische Idee davon, was Freiheit ist. Arendt und Beauvoir, beide von Heidegger beeinflusst, folgen dem Verständnis, dass sich gerade in äußersten Druck- und Ausnahmesituationen ein Freiheitsfenster der Selbstfindung öffnet, dass also die Freiheitsräume größer werden, je schwieriger die Verhältnisse sind. Ähnlich wie man es aus dem bekannten Hölderlin-Zitat kennt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Bei Weil findet sich wiederum die asketische – oder sogar masochistische – Idee, dass je mehr ein Individuum leidet, es umso stärker zu sich selbst finden wird. Und bei Ayn Rand offenbart sich eine heroische Selbststilisierung, wonach es nur gut ist, wenn viele Leute gegen sie sind, weil ihre eigene Stimme dadurch noch klarer konturiert hervortritt.
Dabei fällt auch auf, dass sich alle vier trotz der politischen Verdunkelung und der enorm schwierigen Lebensumstände dennoch eine Art von Heiterkeit, ja bisweilen einen regelrechten Hedonismus bewahren.
Es war eben eine Zeit, in der man morgens aufwachen und sagen konnte: „Hurra, wir leben noch!“ Und das war wirklich ein Grund zur Freude, weil es den täglichen Existenzdruck gab, der mit dem Tod hätte enden können. Aber auch auf philosophischer Ebene findet man bei allen eine eminente Weltliebe. Beauvoir ist etwa nicht zuletzt davon getrieben, dass die Welt an sich ein genussfähiger Ort ist, Ayn Rand spricht vom „wohlwollenden Universum“. Und Simone Weil ist trotz ihrer asketischen Grundhaltung stets zu großer Alltagsfreude fähig. Die Welt ist für alle also nicht an sich ein schlechter Ort. Sie ist ein Ort, in dem wir uns in spezifischer Weise finden können. Und man könnte sich schon fragen, ob das auch etwas damit zu tun hat, dass sie Frauen sind. Zumindest kommt es mir so vor, dass die Traurigkeit und Weltverneinung des „alten weißen Mannes“ in einem interessanten Verhältnis zu dieser philosophisch motivierten Weltliebe steht. Egal, was passiert, alle vier lassen sich ihre Liebe zur Welt nicht austreiben.
Die Freiheit ist ja auch dieser Tage ein großes Thema. Sei es durch die politischen Proteste in Hongkong und Belarus, aber vor allem auch durch die Coronakrise. Strahlen die Konstellationen, die sie im Buch beschreiben bis in die Gegenwart?
Jeder, der offenen Auges in die Welt sieht, wird sehen, dass die Freiheit ein gleichermaßen sensibles wie drängendes Thema unserer Zeit ist, das Menschen in verschiedenen Weisen und Konstellationen extrem beschäftigt. Nicht zuletzt durch die Corona-Erfahrung, die – nicht politisch, aber lebensweltlich – bisweilen durchaus vergleichbar ist mit der Art von Lockdown, den Simone de Beauvoir, Hannah Arendt und Simone Weil zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Paris erleben. Ob der Parallelität entstand beim Schreiben des Buches mitunter auch eine hohe Unheimlichkeit. Aber das ist insofern auch etwas gutes, weil das Buch so angelegt ist, dass es eine Art Flaschenpost aus der Vergangenheit in die Gegenwart erzeugen soll. Denn ich glaube, dass diese vier Denkerinnen idealtypisch über Themen nachgedacht haben, die heute auch unsere politische Landschaft bestimmen. Sei es das Einstehen für die öffentliche Freiheit der anstößigen Rede, des Begehrens und der Geschlechtswahl oder auch der immer von anderen mitgeprägten Frage der eigenen kulturellen Identität. Als Regulativ dieser Freiheit verbleibt dabei nicht nur der oder die andere, sondern auch die reifende Vernunft. Um es mit einem goldenen Wort von Simone Weil zu sagen: „Wem der gute Wille fehlt oder wer immer ein Kind bleibt, ist niemals frei, in keinem Zustand der Gesellschaft.“ Es sind also Denkerinnen für alle Zeit, insbesondere aber die unsere.
Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist und war bis 2017 Chefredakteur des Philosophie Magazin. „Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“ ist soeben im Klett-Cotta Verlag (400S., 25 €) erschienen.
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