Wolodymyr Selenskyj und die Authentizität
Nur wenige trauten Wolodymyr Selenskyj das Amt des Präsidenten zu. Seit dem Krieg jedoch ist er in die Rolle seines Lebens hinein- und dabei über sich hinausgewachsen. Um diesen Wandel nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick in Diderots und Stanislawskis Theorien des Schauspielers.
In der ukrainischen Erfolgsserie Diener des Volkes (derzeit auf Arte zu sehen) mimte Selenskyj einen gewöhnlichen Geschichtslehrers mit starkem moralischem Kompass, der unfreiwillig zum Präsidenten der Ukraine wird. 2019 tritt er tatsächlich zur Wahl an und gewinnt. Damals trauten ihm nur wenige politische Beobachter diese Rolle zu. Doch seit der Invasion hat er in den Augen seines Volkes und der ganzen Welt begonnen, sein Amt wahrhaftig zu verkörpern. Doch wie kam es zu diesem Wandel? Um dies zu verstehen, lohnt ein Blick in die Theorien des Schauspielers von Denis Diderot und Konstantin S. Stanislawski.
Wolodymyr Selenskyj beginnt seine Karriere in den 1990er Jahren im Fernsehen. Im Jahr 2006 gewinnt er sogar die ukrainische Version der Tanzshow Let’s Dance. Sein wirklicher Durchbruch gelingt ihm allerdings durch die Serie Diener des Volkes, die zwischen 2015 und 2019 auf dem ukrainischen Fernsehsender 1+1 ausgestrahlt wird. Der Inhaber des Senders ist kein Geringerer als der Oligarch Igor Kolomoysky, ein einflussreicher Akteur in der ukrainischen Politik, der zweifellos versucht, einen Schützling zu befördern.
In der Serie spielt Selenskyj den Geschichtslehrer Vasyl Holoborodko, der unfreiwillig zum Präsidenten der Ukraine wird. Der Grund: Als er vor seiner Klasse eine leidenschaftliche Rede gegen Korruption hält, filmt ein Schüler seinen Auftritt mit, lädt das Video im Internet hoch und es geht viral. So wird Holoborodko innerhalb von nur wenigen Wochen aus dem Klassenzimmer an die Spitze der Macht befördert. In der Ukraine wird die Serie zum größten Erfolg in der Geschichte des nationalen Fernsehens. In Russland wird sie vom Sender TNT nach der Ausstrahlung der ersten drei Episoden aus dem Programm genommen.
Gespielte Gefühle?
Am 2. Dezember 2017 gründet Wolodymyr Selenskyj die Partei Diener des Volkes, benannt nach der Serie, die ihn berühmt gemacht hat. Nachdem er in die Werchowna Rada, das Parlament des Landes, gewählt worden ist, tritt er 2019 im Rennen um die Präsidentschaft an. Er führt eine untypische Kampagne, die auf die sozialen Netzwerke ausgerichtet ist und mit der Analogie zur Serie spielt. Er nimmt die Korruption der Eliten ins Visier und erhält große Unterstützung von der jüngeren Generation. Selenskyj gewinnt mit 73,2% der Stimmen im zweiten Wahlgang gegen den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko, der sich zu diesem Zeitpunkt mit zahlreichen Korruptionsvorwürfen konfrontiert sieht und eine rigide Sparpolitik verfolgt.
Seit seiner Amtseinführung schien Selenskyj einen professionellen Schauspieler zu verkörpern, ganz so, wie ihn Denis Diderot in seinem Werk Paradox über den Schauspieler beschreibt. Der französische Philosoph, der sich gerne gängigen Vorstellungen entgegensetzte, beschreibt den guten Schauspieler als ein Wesen frei von Empfindsamkeiten. Er ahmt die Leidenschaften nur nach und weiß die „äußeren Zeichen des Gefühls […] gewissenhaft wiederzugeben“, darf sie aber nicht ausleben, da er riskiert, sich darüber zu erschöpfen und nicht mehr aus ihnen herauszukommen. Lange Zeit wurde Wolodymyr Selenskyj daher vorgeworfen, er sei nur ein Schauspieler, der auf kalte und mechanische Art und Weise die Haltung eines Staatsmannes einnimmt, ohne sie wirklich zu verkörpern.
Gelebte Rolle
Doch mit Kriegsbeginn ist der politische Neuling vollständig in die Haut seiner Figur geschlüpft. Selenskyj verkörpert seine Rolle mit Leidenschaft und Feingefühl. Er hat mehrere Videos veröffentlicht, in denen er unter anderem beteuert: „Unsere Waffe ist die Wahrheit. Unsere Wahrheit ist, dass dieses Land, dieses Land und diese Kinder uns gehören. All dies werden wir schützen.“ Er scheint nicht mehr nur den Präsidenten zu spielen, sondern vollends in seinem Amt aufzugehen.
Während er im Oktober 2019 dem New Yorker anvertraute, dass „die Politik wie schlechtes Kino ist, in dem die Leute ihre Rollen überzeichnet wiedergeben“, ist Selenskyj nun zum Gesicht seiner Nation geworden. Er hat die Charakterzüge des idealen Schauspielers angenommen, den der russische Dramatiker Konstantin Stanislawski in seinem Werk Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst (1936) beschreibt. Stanislawski schlug als erster eine Schauspielkunst vor, die den Herausforderungen des Kinos vollends gerecht werden konnte und legte damit den Grundstein für das New Yorker Actors Studio und seine berühmte Methode des „Method Acting“. Gemäß der damals revolutionären Vorstellungen des sowjetischen Regisseurs sollte das moderne Schauspiel vor allem dem Ideal der Authentizität entsprechen. Der Schauspieler soll seiner Figur eine psychologische Tiefe verleihen, indem er seine eigene Persönlichkeit in sein Spiel einbringt. Ganz im Gegensatz zu Diderot muss ein guter Schauspieler für Stanislawski das, was er spielt, tatsächlich „leben“. •
Bei Selenskyj hat der Angriff des russischen Militärs dies bewirkt: Die Haut des Schauspielers wird nun eins mit der des Präsidenten. „Wenn sie uns angreifen, werden sie unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken", erklärte der ukrainische Präsident in einer weiteren Nachricht. Sein eigenes Gesicht wird nicht mehr nur in die Geschichte des ukrainischen Fernsehens eingehen, sondern in die Geschichte schlechthin. •