Yascha Mounk: „Ich verstehe den Patriotismus als halbwildes Tier“
Unsere Gesellschaft wird ethnisch und kulturell immer vielfältiger. Doch Linke wie Rechte sehen die Situation pessimistisch. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk über fehlende historische Vorbilder der diversen Demokratie und die Gefahren einer verhärteten Identitätspolitik.
Herr Mounk, der Titel Ihres neuen Buches lautet Das große Experiment. Dieser Begriff hat in rechten Kreisen, wie Sie im Buch berichten, für große Empörung gesorgt. Warum?
2018 habe ich in den Tagesthemen ein Interview zu meinem letzten Buch Der Zerfall der Demokratie gegeben. Ich wurde gefragt: Was sind die Gründe für das Erstarken des Populismus? Meine Antwort war, das habe mit der Stagnation des Lebensstandards vieler Menschen zu tun, mit dem Internet und den sozialen Medien. Es habe aber auch damit zu tun, dass wir gerade das „große Experiment“ wagen, eine relativ monoethnische Gesellschaft in eine multiethnische zu verwandeln. Den Begriff habe ich spontan verwendet. „Experiment“ hat zwei Bedeutungen: Man kann dabei an einen wissenschaftlichen Versuch denken, bei dem man planvoll ein bestimmtes Ziel verfolgt. Das ist die Angst der Rechten: Die Eliten haben sich gegen das Volk verschworen und wollen es austauschen. Die normalen Bürger sind quasi die Versuchskaninchen. Gemeint war etwas ganz anderes: Man befindet sich in einer neuartigen Situation und schaut: Wie kriegen wir das irgendwie zusammen hin? In diesem Sinne sprachen auch die Gründer der Vereinigten Staaten von „großen Experiment“, als sie Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, eine stabile, sich selbstregierende Republik aufzubauen.
Gibt es denn in der Geschichte keine Vorbilder für ethnisch diverse Demokratien?
Historisch findet man viele diverse Gesellschaften, die zutiefst ungerecht waren oder auf grausame Weise zerfielen. Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe wichtiger bleibt als die gemeinsame Staatsbürgerschaft. Gesellschaften, in der eine Gruppe dominiert und andere Gruppen auf extreme Weise unterdrückt. So war es etwa in den ersten hundert Jahren der amerikanischen Demokratie. Viele der Demokratien, die wir sehr bewundern – vom antiken Athen über die römische Republik bis zu den mittelalterlichen Stadtstaaten in Italien – waren stolz auf ihre angebliche Reinheit und erlaubten nur einer bestimmten Gruppe, volle Bürger zu sein. Anderseits sind viele Beispiele für relativ gelungene diverse Gesellschaften – von Bagdad im 9. Jahrhundert bis Wien im 19. Jahrhundert – gerade keine Demokratien, sondern Monarchien.
Wie lässt sich das erklären?
In einer Monarchie haben die Menschen keine Macht und es ist egal, ob sich eine bestimmte Gruppe durch Zuwanderung oder viele Nachkommen vergrößert. In einer Demokratie jedoch geht es um Mehrheitsfindung. Wenn Mitglieder der anderen Gruppen plötzlich zahlreicher werden, droht ein Verlust von Mehrheiten und damit auch von Macht und Vorrechten. Deshalb kann der Mechanismus der demokratischen Wahl die Spannungen anheizen.
Eine zentrale Beobachtung des Buches ist, dass gegenwärtig sowohl Linke wie auch Rechte pessimistisch auf die ethnisch und kulturell diverse Gesellschaft blicken. Was befürchten sie?
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