Zungen reden
Die Gedichte der afro-amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman sollten von einer weißen Übersetzerin ins Niederländische übertragen werden. Nach Kritik trat diese nun von dem Auftrag zurück. Der Fall zeigt: Die einst vom Poststrukturalismus beerdigte Autoreninstanz ist wieder auferstanden. Doch um welchen Preis?
„Wen kümmert's, wer spricht?“ Mit dieser Frage beginnt Was ist ein Autor? von Michel Foucault, und als der Aufsatz in den späten Sechzigern erschien, dürfte die Antwort für viele gelautet haben: niemanden. Der Autor ist tot, die Autorin passé, der historische Urheber eines Textes – egal. Heute hingegen würde die Antwort vermutlich lauten: alle. Die Frage, wer sich zu welchem Thema äußern darf, ja sogar, wer diese Äußerungen in eine andere Sprache übersetzt, ist virulenter denn je. Der von Foucault, Barthes und anderen poststrukturalistischen Theoretikerinnen totgesagte Autor erlebt derzeit eine Auferstehung. Exemplarisch zeigt sich dies am Eklat um die niederländische Übertragung des Lyrikbands von Amanda Gorman.
Die Ereignisse, die dazu führten, dass alle Welt sich plötzlich um die Übertragung von Gedichten in eine vergleichsweise kleine Sprache kümmert, dürften bekannt sein: Die junge afro-amerikanische Lyrikerin Amanda Gorman trug bei der Amtseinführung von Joe Biden ein fulminantes Gedicht namens The Hill We Climb vor. Wenige Tage später kündigte Gormans nordamerikanischer Verlag ein Buch gleichen Namens an, dessen Rechte weltweit verkauft wurden, unter anderem an Meulenhoff in Amsterdam. Dieser Verlag beauftragte die renommierte Autorin Marieke Lucas Rijneveld mit der Übertragung der Texte ins Niederländische – aber nach einem kritischen Meinungsartikel in der Zeitung De Volkskrant und einer anschließenden Debatte in den sozialen Medien trat Rijneveld von dem Auftrag zurück. Die Kritik galt nämlich nicht zuvorderst Rijnevelds literarischer Befähigung, sondern vor allem ihrer ethnischen und geschlechtlichen Identität: Warum habe man nicht eine Übersetzerin ausgewählt, die Spoken-Word-Künstlerin sei, außerdem „jung, eine Frau und: unapologetically black?“
Zombie des Phallogozentrismus
Ob dies nun einen überfälligen Etappensieg einer progressiven Gleichstellungs- und Identitätspolitik darstellt, wie manche meinen, oder im Gegenteil einen Akt des kulturellen Totalitarismus, sei dahingestellt. Fest steht, dass es das seit Jahrzehnten geltende, poststrukturalistisch geprägte Verständnis von der Rolle der Autorin beziehungsweise des Autors erschüttert. Der vielbeschworene Tod desselben war nämlich weitaus mehr als eine akademische Marotte: Mit der Beerdigung der auktorialen Instanz ging auch eine Erweiterung des Interpretationsraums einher. Wenn es keine gottgleiche Zentralperspektive auf einen Text mehr gibt, keinen Alleinherrscher über den Sinn, dann werden auch konkurrierende Lesarten und Sprechweisen möglich. Die postkoloniale wie auch postfeministische Theoriebildung fußen maßgeblich auf dieser Entmachtung und Entmannung des – meist männlich, weiß und alt gedachten – Autors. Dass ausgerechnet die Auseinandersetzung um die Texte einer jungen, progressiven Afroamerikanerin nun zur Auferstehung dieser Zentralinstanz führt, ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Der Zombie des Phallogozentrismus kehrt zurück. Essentialism is not dead, it just smells funny.
Dies ist umso erstaunlicher, als das Langgedicht, das im Zentrum von Gormans Lyrikband steht, sich der Vereinnahmung durch solche essentialisierenden Diskurse eigentlich widersetzt. Es spricht nämlich nicht von einer spezifisch afro-amerikanischen, weiblichen Erfahrung, sondern ist vereinend, umfassend, dem Anlass entsprechend und im besten Wortsinne: staats-tragend. Der einzige Hinweis auf Ethnie, Gender und Herkunft der Autorin ist der Halbsatz, dass ein „skinny black girl descended from slaves and raised by a single mother“ vor dem Präsidenten stehe – aber er ist distanziert und selbstironisch in der dritten Person verfasst. Ansonsten geht es um ein verheißenes Land, das „committed to all cultures, colors, characters, and conditions of man“ ist, wo also alle gleich sind und offenbar viel in Alliterationen geredet wird. Die Metaphern, in denen dieses Utopia ausgestaltet ist, sind universal, überzeitlich: Licht, Schatten, Tal, Aufstieg, der titelgebende Hügel. Warum ein solches Gedicht nicht auch der bald neunzigjährige, käseweiße Cees Nooteboom übertragen können sollte, ist unklar.
Trüber Spiegel
Überhaupt äußert sich in dem wiederholt vorgetragenen Argument, eine „weiße“ Übersetzerin (oder gar ein Übersetzer) könne sich nicht hinreichend in die Erfahrungswelt von Amanda Gorman hineinversetzen, um ihre Texte adäquat und nicht-verletzend wiederzugeben, ein merkwürdiges Verständnis vom Handwerk des Übersetzens. Schließlich ist es die genuine Aufgabe einer Übersetzerin, sich die Erfahrungswelten, Denk- und Sprechweisen von Menschen anzuverwandeln, die ihr bis zu einem gewissen Grade fremd sind. Ja, möglicherweise ist diese Differenz sogar eine Grundvoraussetzung der Über-Setzung, da sie ja wesenhaft zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen, Horizonten vermittelt. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe sprach in diesem Zusammenhang einmal beglückt von jenem Moment, wenn eine Übersetzerin einen eigenen Text von der „Sklaverei des Originals“ befreit und ihn, gleichsam mit einer Fähre, in eine ungewisse Daseinsform, in ein fremdes Land überführt. „Dazu muss man natürlich das Risiko eingehen, sich übersetzen zu lassen, um am anderen Ufer endlich sich selbst zu begegnen, und sei es in einem trüben Spiegel, in dem man sein Gesicht nicht wiedererkennt.“
Vielleicht brauchen wir mehr solcher literarischen Spiegel, in denen wir unsere Identität zugleich erblicken und hinterfragen: verzerrt, verändert, gebrochen, um eine Formulierung des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha zu verwenden: „less than one and double“. Die afro-deutsche Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft kritisierte jüngst in einem Interview zur Causa Gorman/Rijneveld, dass im Literaturbetrieb grundsätzlich zunächst nach weißen Expertinnen oder Übersetzerinnen gesucht und der Gedanke, dass es auch ebenso qualifizierte People of Color geben könnte, gar nicht zugelassen werde. Dies gilt es ernst zu nehmen – allerdings ohne einer kruden Logik der Äquivalenz zu folgen. Weitaus interessanter und zeitgemäßer wäre es, im oben skizzierten Sinne den Spiegel zu trüben und Übersetzungen in Auftrag zu geben, die Differenzen bewusst in Kauf nehmen. Warum beauftragen Verlage, wenn es um die Neu-Übersetzung eines toten weißen Mannes geht, nicht nächstes Mal eine schwarze Frau? Wenn wir uns in unsere Täler der Ähnlichen und Gleichgesinnten zurückziehen, dürfte der Hügel, den es zu erklimmen gilt, immer höher werden. •
Florian Werner ist promovierter Amerikanist und Autor. Als Übersetzer hat er unter anderem Gedichte von Saul Williams, Carla Harryman und Edwin Torres ins Deutsche übertragen.
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