Wer wäre ich in einem anderen Körper?
Der Film Aus meiner Haut verhandelt klug und einfühlsam eines der größten Identitätsrätsel. Dass der Film am Ende mehr Fragen aufwirft, als dass er Antworten gibt, offenbart das komplexe Verhältnis von Leib und Seele.
Die Idee ist genial und philosophisch hochinteressant. Regisseur Alex Schaad erzählt in Aus meiner Haut die Geschichte eines Paars, Leyla und Tristan. Leyla ist depressiv, Tristan extrem schüchtern. Aus lauter Rücksicht weiß er mit der Krankheit seiner Freundin kaum umzugehen. Die beiden reisen auf eine Insel, um gemeinsam mit anderen Menschen an einem geheimnisvollen Ritual teilzunehmen: Wer es durchläuft, tauscht mit einer zweiten Person, die zugelost wird, den Körper.
Leyla und Tristan bekommen Fabienne und Mo zugelost. Fabienne ist eine sinnliche, nachdenkliche Frau mit französischem Akzent, Mo ein Macho. Leyla zieht im Zuge des wasserreichen Rituals (Waschung und Flussfahrt) in Fabiennes Körper, Fabienne in Leylas. Tristans Körper ist das neue Zuhause von Mo und umgekehrt.
Körpertausch als philosophisches Experiment
Die philosophische Prämisse dieses Rituals (durchgeführt von Edgar Selge, der eine junge Frau spielt, die im Körper ihres Vaters wohnt) ist ein strikter Platonischer Leib-Seele-Dualismus. Sprich: Seele und Leib werden von Platon als säuberlich getrennt gedacht. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum die rituelle Seelenwanderung im Film überhaupt gelingt. Doch stößt dieses Platonische Konzept im weiteren Verlauf schnell an eine Grenze. Der Körper nämlich ist für Platon im Gegensatz zur ewigen Seele lediglich eine unwichtige, flüchtige Hülle. Genau das gilt im Fall von Leyla und Fabienne aber gerade nicht.
Denn kaum steckt Leylas depressive Seele in Fabiennes Haut kehren Leylas Lebensgeister zurück. Sie hat wieder Freude an der Existenz. Geht joggen, lacht, genießt ihr Dasein. Fabienne, die Leylas Körper bewohnt, fühlt sich hingegen sofort eigentümlich schwer. Ihre neue Haut, so scheint es, raubt ihr buchstäblich die Luft zum Atmen. Im Fall von Leyla und Fabienne ist der Körper also durchaus kein nichtiges Beiwerk, sondern existenzbestimmend: Die Materie macht die Musik. Die neuen Körper verändern den seelischen Zustand Leylas respektive Fabiennes grundlegend, womit sogleich die Frage im Raum steht, ob es eine körperunabhängige Seele überhaupt gibt: Radikalmaterialisten wie Julien Onfray de la Mettrie haben im Zuge der Aufklärung genau das infrage gestellt und die Seele kurzerhand zum metaphysischen Hirngespinst erklärt.
Vernunft des Leibes
Doch geht Aus meiner Haut auch in einer materialistischen Deutung kaum auf. Bei Mo und Tristan nämlich ist es auffälligerweise genau umgekehrt: Nicht Leib bestimmt Seele (bzw. macht sie als Konzept überflüssig), sondern Seele bestimmt Leib. Der schmale, feminine Tristan-Körper agiert nach dem Wasser-Ritual plötzlich genauso wie Macho-Mo, fläzt sich in den Sessel, rotzt, schnieft, klopft dumme Sprüche. Umgekehrt performt der dickliche Mo-Körper jetzt ausgesprochen feinsinnig; sofort erkennt der Zuschauer hier unter der kleinen Mo-Fettschicht die schöne Seele Tristans. Vermutlich war es schauspielerisch und dramaturgisch schlicht zu reizvoll, hier dann eben doch ganz platonisch der Seele die Macht zuzusprechen.
Allein, bei genauerem Hinsehen ist es noch komplizierter. Denn was passiert eigentlich mit musischen Fähigkeiten wie virtuosem Gitarrenspiel, wie Tristan es beherrscht, wenn der Körper gewechselt wird? Auffälligerweise zieht die Virtuosität nicht einfach mit um. Tristan im Körper von Mo fehlt die leibliche Intuition, das in abertausenden Übungsstunden antrainierte Körperwissen. Wer die entsprechenden hilflosen Szenen sieht, mag an Nietzsche denken: Von der „großen Vernunft des Leibes“ hatte der Philosoph gesprochen und sich damit dezidiert gegen die platonisch-christologische Abwertung des Leibes gewendet: Es ist unser Leib, der denkt, ja Dinge weiß, die wir bewusst nicht wissen. Was übrigens nicht immer schön sein muss.
Ungelöstes Rätsel
Eine weitere, höchstspannende Dimension des Leib-Seele-Verhältnisses wird angespielt, wenn Leyla im Zuge des Films irgendwann mit einem Mann den Körper tauscht. Nach dem Joggen geht Leyla im Männer-Leib duschen und befriedigt sich selbst; später gesteht sie/er Tristan, dass der Penis zur ständigen Selbstbefummelung einfach einlädt – Tristan stimmt zu. Das für heterosexuelle Paare erkenntnistheoretisch wie ontologisch unlösbare Problem, nie zu wissen, wie es ist, das andere Geschlecht zu haben (oder zu sein?) – was, wie man weiß, Konfliktpotenzial besitzt – wird hier gelöst durch ein Ritual, das vollständige Einfühlung ermöglicht. Plötzlich ist Leyla ein Mann. Empfindet wie er. Die queere Phänomenologie fände hier schönstes Anschauungsmaterial. Und Tristan? Nun, der hat sich nie als homosexuell begriffen und fremdelt mit der zum Mann gewordenen Leyla, entzieht sich körperlich – und es gehört zu den ganz großen Stärken dieses Films, dass er plausibel zu zeigen vermag, wie sich ein Begehren, dass man für fix hielt, sehr wohl ändern kann.
So wie die Seelen immer wieder rastlos ihr Zuhause wechseln, befindet sich auch der Film selbst auf der Suche. Aus meiner Haut ist eine kluge, philosophische Versuchsanordnung, die das große Rätsel von Leib und Seele entfaltet und immer wieder neu stellt, anstatt es zu lösen. Für den Zuschauer ist das ein Glück. So bleibt eine letzte Frage für den Kneipengang nach dem Film: Was wird eigentlich aus der Eifersucht, wenn man mit seinem Partner Sex hat, der gerade in einem anderen Körper wohnt? •
Weitere Artikel
Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner
Aristoteles und die Seele
In seiner wirkmächtigen Abhandlung Über die Seele behauptet Aristoteles: Die Seele ist kein Körper, aber sie existiert auch nicht ohne ihn. Ja, was denn nun, fragen Sie sich? Wir helfen weiter!

Alexander Kluge: „Philosophieren ist für den Menschen wie für den Maulwurf das Graben“
Der Filmemacher, Schriftsteller und Intellektuelle Alexander Kluge erläutert im Interview, warum wir einen neuen Aktualitätsbegriff brauchen, das Silicon Valley „Seelengeiz“ erzeugt und man die Phänomenologie des Geistes in Tübinger Mundart vorlesen sollte.

Giulia Enders und Gernot Böhme: Die Lehren des Leibes
Dass wir einen Körper haben, wird uns meist erst bewusst, wenn er schmerzt. Dabei ist er es, der die Antworten auf die großen Fragen der Existenz tief in sich trägt: Giulia Enders und Gernot Böhme über die Intelligenz des Darmes und Leibsein als Aufgabe.

Klarheit durch Methode
René Descartes begründet eine neue Erkenntnistheorie und eine neue Metaphysik: der Körper als Maschine, die Seele als Refugium des freien Willens, der Mensch als mysteriöse Einheit von Körper und Seele. Ein Glossar seiner wichtigsten Grundbegriffe.

Die Gerd und Soyeon-Show
Gerhard Schröder ist jetzt auf Instagram. Auf dem Kanal seiner Frau Soyeon Schröder-Kim offenbart der Altkanzler eine naturnahe Gemütlichkeitsoffensive, die aus polit-ästhetischer Perspektive einige grundsätzliche Fragen aufwirft.

Alexander Kluge: „Das Zwerchfell besitzt rebellische Fähigkeiten“
Alexander Kluges umfassendes Werk aus Filmen, Literatur und Theorie kreist immer wieder um unser vielschichtiges Körperwissen. Für den Denker birgt der Leib nicht nur eine zweite Vernunft. Sondern auch: ein unstillbares Maß an Eigensinn.

Kommentare
Danke ihnen für die anregenden Gedanken und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Auch wenn es nur ein Gedankenspiel ist:
Damit Vertrauen und Treue allseitig wahrscheinlich ausreichend gewahrt bleiben, würde es vielleicht helfen, vorher Absprache zu treffen, so vielleicht, dass bei intensiven Ereignissen immer alle Körper und Seelen anwesend sind. Selbst nur unwissendes, mögliches Fehlverhalten wäre ja auch eine Bedrohung für alle getauschten Körper und Seelen. Da die Situation aber so neu und besonders wäre, würde wohl besser mit psychologischen und auch körperlichen Überraschungen gerechnet werden.
Vielleicht könnten dann in einer glücklichen Konstellation zwei bis vier Menschen bekannte Körper mit neuen Seelen oder neue Körper mit bekannten Seelen ihre vielfältigen, auch erogenen, Wechselwirkungen erkunden.