Donatella Di Cesare: „Wir müssen Bürgerschaft als Fremdheit denken“
Die Europäische Union plant eine Asylreform, die für Donatella Di Cesare nicht nur ein Verrat an der europäischen Idee ist, sondern auch eine Fortführung der Blut-und-Boden-Ideologie. Die Philosophin fordert statt einer Politik nationalstaatlicher Souveränität ein neues Denken der Bürgerschaft. Über die Möglichkeiten einer solchen Veränderung sprachen wir mit ihr am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.
Frau Di Cesare, die letzten Wochen waren geprägt von einer Diskussion um eine Asylreform der Europäischen Union. Die gemeinsame Verhandlungsposition der EU-Staaten besagt, dass Asylanträge bereits an den europäischen Außengrenzen geprüft und in Schnellverfahren bearbeitet werden sollen. Während der Prüfung müssen sie unter haftähnlichen Bedingungen in strengkontrollieren Transitzonen bleiben, um sie von dort entweder direkt in die europäischen Aufnahmeländer zu bringen oder in ihre Herkunftsländer oder als sicher eingestufte Drittländer zurückzuführen. Was halten Sie von dieser Idee?
Die geplanten Änderungen sind eine Schande. Es ist unglaublich, dass die Mehrheit der Teilnehmer der politischen und öffentlichen Debatte glaubt, dass es nach der Reform besser funktionieren würde. Sie ignorieren, dass diese Maßnahmen nicht nur die Menschenrechte stark in Frage stellen, sondern auch die europäische Idee unterminieren. Die Reformen sind Ausdruck einer immunitären Politik, die schon seit längerer Zeit die Migrationsfragen bestimmen. Diese Politik steht ausschließlich im Zeichen des Schutzes der Bürger und baut auf dem Mythos einer ethnischen Integrität und Identität der europäischen Nationalstaaten auf. Statt von demokratischen Prinzipien, bei welchen Betroffene in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden, wird die Politik durch polizeiliche Praktiken der Kontrolle, Überwachung und Verwahrung geleitet. Nichts offenbart dies deutlicher als das Vorhaben, außerhalb der europäischen Grenzen Migrationszentren aufzubauen. Hier werden Migranten in Menschen, deren Arbeitskraft ausgenutzt werden kann, und Menschen, die als überflüssig erklärt werden und dazu verdammt sind, ein Leben in Unsichtbarkeit und ohne Rechte zu fristen, aufgeteilt.
Wie müsste eine bessere Migrationspolitik aussehen?
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Kommentare
danke für diesen Beitrag. Es ist wie ein frischer Wind. Endlich eine Denkerin, die tatsächlich human denkt und weit über den jetzigen Rahmen. In so einer Welt würde ich gerne leben.