Bernhard Waldenfels: „Fremdheit ist wie das Salz der Erfahrung“
Bernhard Waldenfels ist einer der wichtigsten Phänomenologen unserer Zeit. Im Interview spricht er über die verschiedensten Schattierungen der Fremdheit und Rassismus als einer ihrer Krankheiten.
Herr Waldenfels, warum haben eigentlich so viele Menschen Angst vor dem Fremden?
Sie beginnen mit Ihrer Frage mitten in der Sache. Dass man nur jemand ist, wenn man von einer Eigensphäre umhüllt wird, versteht sich: Für Wesen, die wie der Mensch in einer geteilten Welt leben, sind die Kategorien ‚ich‘ und ‚mein‘ nicht zu trennen. Dass aber Fremdes Angst auslöst, setzt voraus, dass es als bedrohlich und gefährdend erlebt wird. Letzteres versteht sich wiederum nicht von selbst.
Dann gehen wir der Sache doch nach. Meinen Sie, dass die menschliche Reaktion auf Fremdes anthropologisch begründet ist?
Das hängt davon ab, was man unter dem Menschlichen versteht. Ich nehme zusammen mit dem französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty an, dass es im menschlichen Verhalten und Erleben nichts gibt, das nicht zugleich natürlich angelegt und künstlich geformt ist. Das betrifft auch den zwischenmenschlichen Umgang, beginnend mit dem Lächeln, der Umarmung oder dem alltäglichen Gruß. Ich würde sagen, dass der Umgang mit dem Fremden in Fremdenfeindschaft ausartet, hängt auch von familiären und persönlichen Umständen ab. Aber nicht nur: Auch das kulturelle Klima ist relevant. Dazu gehört in der westlichen Moderne, seit Descartes und Hobbes, eine auf Selbsterhaltung abzielende Egozentrik und Ethnozentrik, die alles Fremde als sekundär abstempelt und es im Konfliktfall dem Eigenen opfert.
Was unterscheidet eigentlich die Fremdheit von der Feindschaft?
Nicht zu übersehen ist zunächst eine Verwandtschaft zwischen Fremdheit und Feindschaft: Im Lateinischen heißt das Wort „hostis“ sowohl Feind wie auch Fremder. Daran sieht man das Schillern zwischen den Begriffen. Als Fremder ist man immer noch mehr oder weniger zu einer Ordnung zugehörig. Fremdheit lässt sich deshalb mit dem folgenden Satz zusammenfassen: „Man gehört nicht ganz und gar dazu“. Feindschaft wiederum unterscheidet sich davon radikal. Denn sie bedeutet strikt, dass der andere nicht sein soll. Feindschaft hat deshalb nicht bloß mit mangelnder Zugehörigkeit, sondern immer schon mit Vernichtung zu tun. Der Feind ist nicht bloß der, der nicht dazu gehört. Er ist ein Gegenmensch, der vernichtet werden soll. Feindschaft wird demnach negativ definiert, während sich das Fremde nicht in normativen Kategorien bestimmen lässt: Das Fremde ist weder etwas Positives noch ist es ein Defizit. Wie alles Vergessene ist es etwas, das da ist, indem es sich entzieht – unserem Zugriff und unseren herkömmlichen Kategorien.
Und gerade das macht es für die Philosophie so interessant. Wo ist Ihnen das Fremde in der Philosophie begegnet?
Zunächst bei dem sokratischen Platon, der sagt, dass die Philosophie mit dem Staunen beginnt. Das Entscheidende beim Staunen wiederum lässt sich mit einem Satz von Nietzsche ausdrücken: „Ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will.“ Wenn wir diese beiden Überlegungen zusammennehmen, können wir sagen, Philosophie fängt damit an, dass uns etwas widerfährt. Genau darum geht bei dem Phänomen des Fremden: Um eine Bewegung, die auf mich zukommt, ohne, dass ich mir das aussuche. Gegenüber Fremdem sind wir also nicht in der Position, aktiv etwas zu tun und zu bewerten. Vielmehr werden wir überfallen von etwas Überraschendem und Ambivalentem. Das kann eben erstaunlich, verlockend oder auch erschreckend sein – und es findet sich auch in der Philosophie.
Sie haben bereits Maurice Merleau-Ponty, den wichtigen französischen Phänomenologen, erwähnt, dessen Vorlesungen Sie in Paris Anfang der 1960er besucht haben. Sie selbst arbeiten seit vielen Jahrzehnten an einer Phänomenologie des Fremden. Was kann uns die Phänomenologie über das Fremde lehren?
Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, liefert uns eine paradoxale Bestimmung des Fremden. Er beantwortet die Frage danach, was das Fremde ist, folgendermaßen: Das Fremde gründet in einer „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“. Mir ist etwas zugänglich, ohne dass es erfassbar oder erreichbar wäre. Auf dieser Einsicht gründet meine Phänomenologie des Fremden. Was die Phänomenologie für mich allgemein attraktiv gemacht hat, ist dabei, dass sie keine systematisierende Philosophie ist, die alles einordnet und in einen festen Zusammenhang bringt, sondern eine Philosophie, die von einer offenen Erfahrung ausgeht.
Wenn wir davon sprechen, Erfahrungen zu machen oder mit etwas Erfahrung zu haben, meinen wir meistens einen erlernten Umgang. „Ich habe damit schon Erfahrung“ bedeutet, dass ich mich daran gewöhnt habe und es verstehen und es einordnen kann. Kann man sich an das Fremde auch gewöhnen?
Man kann sich an das Fremde nicht gewöhnen, ohne dass es seine Fremdheit verliert. Ich entwickle deshalb einen starken Erfahrungsbegriff, der miteinschließt, dass ich selbst durch Erfahrung verändert werde. Genau das geschieht nämlich bei Fremderfahrungen: Die Erfahrende ist dann nicht mehr jemand, die mit etwas umzugehen weiß, sondern eine, die von etwas erschüttert wird. Komme ich mit dem Fremden in Berührung, kann ich es zunächst gar nicht beschreiben, so wie das bei etwas der Fall wäre, das ich schon kenne. Für eine Fremderfahrung habe ich zunächst überhaupt keine Worte. Es ist diese Erkenntnis, die ich mit der Phänomenologie verbinde, in der genau solche Erfahrungen mit dem Neuartigen und dem sich Verändernden den Anstoß geben.
Wir haben nun schon darüber gesprochen, was geschieht, wenn jemandem Andere fremd sind. Kann man sich eigentlich auch selbst fremd werden?
Definitiv! Anders als viele meinen, beginnt die Fremdheit nämlich im Eigenen. Nehmen wir zum Beispiel den Begriff des Unheimlichen. Sigmund Freud schreibt: „Das Ich ist nicht einmal Herr im eigenen Hause“ und meint damit, dass das Heimliche plötzlich doppelbödig wird, sich entzieht und Schrecken auslöst. Dementsprechend bedeutet Heimat dann nicht mehr, irgendwo ganz und gar zu Hause zu sein, es besagt vielmehr, dass es schon in der eigenen Heimat etwas gibt, was eben unheimlich ist.
Was gibt es denn noch für Formen des Fremden?
Fremdheit ist wie das Salz der Erfahrung: Das Fremde kommt in allem Möglichen vor. Es ist nicht nahrhaft, aber doch schmackhaft. Und gleichzeitig gilt, dass auch wenn das Fremde verschiedene Formen annimmt, es doch keine Erfahrung gibt, in der es gar kein Salz des Fremden gäbe. Denken wir an den lateinischen Ursprung des Wortes: Im Lateinischen bedeutet ‚sal‘ nicht nur Salz, sondern interessanter Weise auch Witz. Der Witz ist dann dasjenige, das den Sinn der Worte schärft. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Insgesamt unterscheide ich drei große Dimension der Fremde. Erstens gibt es die Fremdheit meiner selbst – bis hin zum eigenen Leib, dann gibt es die Fremdheit der Anderen und drittens gibt es die Fremdheit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, einer anderen Lebensart. Grundsätzlich tauchen Andere dabei zunächst nicht als andere Personen auf, die ich von außen her beschreiben kann, sondern sie tauchen auf, indem sie mich anblicken, ansprechen, anrühren, bis hin zur Berührung, die in Zeiten der Pandemie zur Rarität und als Infektion gefährlich wird. Und, Sie merken es schon, diese Art der Fremdheit kann man nicht trennen von der Fremdheit sich selbst gegenüber: Es gibt ein Ineinander der Fremdheit des Eigenen und der Fremdheit des Anderen.
Die verschiedenen Formen von Fremdheit sind also untrennbar. Könnten Sie etwas dazu sagen, wo sich dieses Ineinander von meiner Fremdheit und der Fremdheit der anderen Person konkret ausmachen lässt?
Denken wir zum Beispiel an die eigene Geburt. Ich war bei meiner Geburt dabei, schließlich bin ich es, der geboren wurde. Aber bei meiner Beteiligung handelt sich nicht um einen willentlichen Akt, den ich aktiv durchlebt habe. Die Geburt ist etwas, was immer schon geschehen ist, wenn ich davon weiß. Gleichzeitig betrifft sie mich in höchstem Maße. Geboren worden zu sein besagt deshalb, dass ich von woanders herkomme – und nicht eigenem Antrieb und Handeln entstamme. Ein weiteres Beispiel wäre der eigene Name, den man von Anderen bekommt. Jeder Name ist ein Fremdname, weil in ihm schon eine Familiengeschichte oder eine Landes- und Kulturgeschichte fortlebt.
Wenn das eigene Fremde und die Fremdheit Anderer einander zugehörig sind, könnte man sich fragen, ob das Fremde eine Grundlage für Gemeinschaft sein kann. So ist das bei Julia Kristeva angedacht, die in ihrem Text Fremde sind wir uns selbst zu dem Ergebnis kommt, dass gerade weil wir uns alle selbst fremd sind, man „den Fremden“ als Figur eigentlich gar nicht mehr braucht. Kristeva schreibt dort: Der Fremde „hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen“. Was halten Sie davon? Wären Sie mit einem solchen Ineinander von meiner Fremde und der Fremde anderer Personen einverstanden?
Nein, ganz und gar nicht. Das ist ein Gedankentrick, ein Sophismus! Das Fremde bezeichnet doch gerade eine Asymmetrie, ähnlich wie das Ich, das zwar eine allgemeine Funktion anzeigt, aber nur singulär auftritt, okkasionell, wie Husserl es nennt. Man ist nie dort, wo sich der Andere befindet – und umgekehrt. Jemand zu sein heißt, dass ich genau diese eine, bestimmte Fremdheit jetzt erfahre. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich Schmerzen habe und sich mein Leib fremd anfühlt, bekunde ich meinen eigenen Schmerz und mein Leiden. Mein Schmerz lässt sich nicht gänzlich in die Fremdheit der Schmerzen Anderer einschmelzen.
Es könnte doch aber sein, dass jemand die Fremde sich selbst gegenüber auf andere projiziert. Womöglich ist das sogar ein Grund dafür, wie Rassismus entsteht und dauerhaft als Ideologie fortbesteht. Klingt das für Sie so wenig plausibel?
Der Rassismus, der zu den Krankheiten der Fremdheit gehört, hat sicherlich mehrere Wurzeln. Eine Wurzel liegt in der biologistischen Sicht auf die kulturelle Diversität. Die Hautfarbe und andere körperliche Merkmale werden als Wesensmerkmale interpretiert und zugleich einer pejorativen Bewertung unterzogen, die in der defizitären Bestimmung von Barbaren, Heiden und Klassenfeinden ihre lange Geschichte hat und die in der Berufung auf eine weiße „Herrenrasse“ gipfelt. Der nach wie vor praktizierte Rassismus enthält sicher auch Momente der Projektion. Man verlagert nach außen, was man an sich selbst nicht wahrhaben will. Der Selbsthass ist eine Quelle des Fremdhasses, der auf einer weitgehenden Verkennung des Anderen beruht und sich von Klischees nährt. Eine Phänomenologie des Anderen, die ihrer ethischen und politischen Implikationen gewahr ist, beginnt dagegen mit dem Anruf und Anblick, der vom fremden Gesicht ausgeht. Dass zu dieser Achtung der Alterität viele jüdische Denker wie Buber, Rosenkranz, Husserl, Simmel, Benjamin, Mauss, Levinas oder Derrida in besonderem Maße beigetragen haben, ist sicher kein Zufall. Schließlich macht das Leiden unter dem Ausgeschlossensein aufmerksam auf die eigene Lage. Auch diese Tatsache gehört zu der Geschichte des Fremden, die keineswegs abgeschlossen ist. •
Bernhard Waldenfels lehrte von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1999 als Professor für Philosophie an die Ruhr-Universität Bochum und ist einer der wichtigsten Denker der deutschsprachigen Phänomenologie. Zuletzt erschien von ihm „Erfahrung, die zur Sprache drängt – Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht“ (Suhrkamp, 2019).