Der Zauber des Gezapften
Dieser Tage öffnet die Außengastronomie. Endlich ist es wieder möglich, ein frisch gezapftes Bier zu trinken. Warum darin – ohne jede Alkoholromantik – ein fast vergessenes Glücksgefühl liegt, erklärt der belgische Philosoph Pascal Chabot.
Wir genießen stets in einem Kontext, schmecken in einem Möglichkeitsraum: Das lehren uns ein paar Schluck' Bier. Nicht aus den Flaschen, die wir im Supermarkt kaufen und uns dann aus dem Kühlschrank holen. Nein, ich meine jene gezapften Biere, die wir nun wieder auf den Terrassen der Kneipen, Bars und Restaurants kosten können. Es ist ein solch simples Vergnügen, das sich aus der Kombination materieller und psychischer, ja sogar phantasmatischer Elemente speist. Denn die erfrischende Bitterkeit des ersten Schluck Fassbiers, die der Schriftsteller Philippe Delerm einst so gut beschrieben hat, entsteht aus dem Zusammenspiel der cremigen Schaumkrone und der Kohlensäure, welches so vollendet nur in einer Kneipe möglich ist. Denn für dieses Gefühl braucht es schließlich das technische Equipment der Zapfanlage. Die Magie eines Pilseners entsteht dann durch seine Frische, durch das noch feuchte Glas, das kontrollierte Sprudeln. In dieser entbehrungsreichen Zeit hatten wir solch ein Glücksgefühl schon fast vergessen.
Wobei das aber auch nur die eine, eher prosaische Seite des (Bier-)Durstes ist. Die andere besteht darin, dass der Durst auch immer einen Kontext braucht, um wirklich gestillt zu werden: Menschen, Musik oder auch nur eine ruhige Terrasse am Wasser, ein kleiner Eisentisch und ein Bier. Dann hat es seinen Platz, seine Berechtigung – und mit ihm derjenige, der es genießt und dabei seinen Gedanken nachgeht, sie gären lässt, sodass sie im Spiel der Assoziationen zu etwas Neuem führen. Wenn wir hauptsächlich in solch einem Zusammenhang trinken, dann deshalb, weil dieses kleine, kühle Blonde, das zunächst sehr banal erscheint, stets in ein riesiges Erfahrungsnetz eingebunden ist, welches ganz und gar nicht banal ist.
Inseln der freien Rede
Genehmigen wir uns auf diese Weise ein Bier, beschwören wir eben dieses Netzwerk bis in seine kleinsten Verästlungen, alle jene Möglichkeiten, die uns durch den Lockdown meist verschlossen blieben: das ausführliche Gespräch mit einem Freund; die oft so nutzlosen, schon fast vergessenen, aber doch so essentiellen Feierabendbiere mit Kollegen; die zärtlichen Annäherungsversuche des jungen Paares am Nebentisch; das fette, theatralische Lachen eines dickbäuchigen Mannes, der schmutzige Witze aus einer vergangenen Zeit erzählt; diese Frau, die, geschmackvoll gekleidet, Ton in Ton, alleine am Tresen lehnt und mit der ein paar andere Einsame sich gerade in die Zukunft träumen. Überall in der Stadt, diese Inseln der freien Rede, auf denen nichts reglementiert ist und die davon zeugen, dass Menschen immer mehr in sich tragen, als sie selbst zu glauben wagen.
Darin liegt das Interessante eines frisch gezapften Bieres: Es führt uns in eine Existenzweise, die sich mehr dem Möglichen und der psychischen Fluidität zuwendet als der Realität und ihren materiellen Zwängen. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in den weniger lauten, traurigeren Kneipen, in denen die chronischen Trinker sitzen, deren Realität sich ein für alle Mal im Hopfen aufgelöst hat und die beim Verlassen der Bar einem Alltag entgegentaumeln, der nicht immer frei von Gewalt ist. Keine Alkoholromantik also, kein einseitiges Lob dieser mächtigen Moleküle, die ein zyklothymisches Leben erzeugen: morgens dumpf, abends lebendig. Vielmehr benötigen wir ein starkes Bewusstsein dafür, dass ein Getränk ein Netzwerk von Möglichkeiten schafft und das wahre Vergnügen in der Wahl zwischen den psychischen Zuständen und sozialen Beziehungen zu suchen ist, in die es uns einführt. •
Von Pascal Chabot erschien zuletzt „Avoir le temps – Essai de chronosophie“ (PUF, 2021).
Weitere Artikel
Macht euch die Hände schmutzig!
Der eine hat das Burnout-Syndrom entschlüsselt, der andere plädiert für die Rehabilitierung des Handwerkers. Pascal Chabot und Matthew Crawford krempeln die Ärmel hoch zu einem alles andere als beschwerlichen Gedankenaustausch.

Zum Tod des Philosophen Peter Bieri
Am 27. Juni ist Peter Bieri gestorben. Die Philosophin Eva Weber-Guskar studierte einst bei ihm und erinnert sich an den begnadeten Philosophie-Didaktiker, Denker der Freiheit und erfolgreichen Schriftsteller.

Online-Lehre und der Zauber der Abwesenheit
Mit der digitalen Vorlesung verschwinden weder Zauber noch Herrschaft. Im Gegenteil birgt sie ganz neue Möglichkeiten charismatischer Einflussnahme. So entsteht ein neues professorales Subjekt.

Jacqueline Pascal, die unbeirrbare Ordensschwester
Zeitlebens trat Jacqueline Pascal für die religiöse Bildung junger Frauen und ihre eigene Unabhängigkeit ein und fand dennoch neben ihrem berühmten Bruder Blaise kaum Beachtung – zu Unrecht, wie Millay Hyatt zeigt.

Abweichung wagen
Und, wie lauten Ihre Neujahrsvorsätze? Weniger Alkohol trinken, mit dem Rauchen aufhören? Mehr Sport treiben, häufiger Freunde treffen? Den Fernseher abschaffen, alle elektronischen Geräte nach Feierabend ausschalten, um wieder mehr Bücher zu lesen? Vielleicht möchten Sie auch auf Verpackungen verzichten, um Plastik zu sparen. Oder Ihr Auto häufiger stehen lassen? Leer liegt das neue Jahr vor uns. Und wie verlockend ist der Gedanke, sich in diese Leere hinein anders, gar ganz neu zu entwerfen! Schlechte Angewohnheiten und alte Ängste abzulegen, um sich in ganz neue Gefilde vorzuwagen. Gesünder zu leben. Tiefer. Selbstbestimmter.

Gerichtsmediziner Philippe Boxho: „Ich bin die letzte Chance für einen Toten, sich bei den Lebenden Gehör zu verschaffen“
Die Arbeit eines Gerichtsmediziners ist philosophischer, als es im ersten Moment scheint: Der belgische Rechtsmediziner Philippe Boxho erklärt, wie sich Absichten in Organen materialisieren, weshalb die Wahrheit schwerer wiegt als der Wunsch der Verstorbenen und warum Menschen sich gegenseitig töten.

Kontrollier' mich
Bei der App NewNew bezahlen Menschen dafür, um zu entscheiden, was andere Menschen essen, trinken oder einkaufen. Klingt wie der Albtraum der Kulturkritik – wirft aber vor allem die Frage auf, wer davon am meisten profitiert.

Die Sache mit dem Strohhalm
Das kleine Saugröhrchen gilt als infantil und ökologisch unverantwortlich. Doch ohne seinen Zauber können wir nicht leben. Es hält die Erinnerung an vergangene, unbeschwerte Tage wach. Eine Kolumne von Wolfram Eilenberger.
