Zum Tod des Philosophen Peter Bieri
Am 27. Juni ist Peter Bieri gestorben. Die Philosophin Eva Weber-Guskar studierte einst bei ihm und erinnert sich an den begnadeten Philosophie-Didaktiker, Denker der Freiheit und erfolgreichen Schriftsteller.
Wie lehrt man Philosophie? Wenn ein philosophisches Problem, wie Ludwig Wittgenstein sagte, die Form hat „Ich kenne mich nicht aus“, wenn es eine begriffliche Verwirrung in einer fürs Leben wichtigen Frage ist, dann heißt, Philosophie zu lehren, nicht in erster Linie, Fachbegriffe und Theorien beizubringen, sondern beim Ordnen von je eigenen Gedanken zu unterstützen. Das war eine von Peter Bieris großen Stärken.
Ehemalige Studierende und Promovierende aus seiner Zeit als Professor in Bielefeld, Marburg und an der FU Berlin erinnern sich lebhaft an seine Seminare, Vorlesungen und Colloquien. Seine charakteristische Stimme in ihrer Berner Bedächtigkeit, mit dem gerollten „r“ und klickenden „k“, klingt uns allen noch im Ohr. Selten sonst fühlten wir uns von Anfang an derart ernst genommen, aufgenommen im konkreten, spontanen Gedankenaustausch, in einem Gespräch auf Augenhöhe. Wenn er in der Vorlesung erklärte, es ginge ihm zum großen Teil darum, implizites Wissen in explizites zu verwandeln (was freilich auch ein gewissen magischen Touch hatte, der am Studienanfang begeisterte), dann wollte er damit gerade nicht sagen, es gäbe die eine richtige Sicht der Dinge und die müsste man nur aufdecken – sondern er wollte betonen, dass er als Professor in keiner epistemisch grundlegend privilegierten Position stehe. Alle, die der Sprache mächtig sind, könnten sich gleichermaßen am Versuch beteiligen, begriffliche Verwirrungen aufzulösen. So scheute er sich auch nicht, in einem Dissertationsgutachten zu schreiben, dass er aus einem Kapitel „viel gelernt“ habe.
Schreiben als Erkenntnistechnik
Er nahm die großen, sich freilich über die Jahre wiederholenden Fragen der Studierenden, stets auf, als hörte er sie zum ersten Mal („ist Wahrheit nicht immer relativ?“, „sind nicht alle Werte subjektiv?“, „sind wir als biologische Wesen nicht notwendig determiniert?“ etc.). Er antwortete nicht mit fertigen Lösungsvorschlägen oder -ismen. Vielmehr formulierte er die mehr oder weniger unbeholfenen Äußerungen in klare und spannende Problemstellungen um und half, Schritt für Schritt eine „logische Geographie“ der Gedanken rund um das Thema zu entwerfen, wie er es mit Gilbert Ryle bezeichnete. Als Ziel einer philosophischen Hausarbeit nannte er in einer seiner detaillierten, fein formulierten Handreichungen: „zeigen, dass man auf dem Weg ist, eine bestimmte Fähigkeit auszubilden: gedankliche Transparenz, die sich in kompositorischer Transparenz zeigt“. Schreiben galt ihm als Erkenntnistechnik.
Er ging mit Studierenden Mittagessen, um dabei nicht nur weiter über Harry Frankfurt und Peter Strawson, sondern auch über Fernando Pessoa oder Cesare Pavese zu sprechen. Er war sensibel für die Lebenswelt der Studierenden, was so weit führen konnte, dass er einer Studentin in psychischen Schwierigkeiten einen Gedichtband zukommen ließ. Und manchmal spielte er mit selbstironischer Inszenierung, wenn er sich etwa zum Sartre-Seminar ausnahmsweise ganz in Schwarz und Rollkragen kleidete.
Beim eigenen Schreiben legte er Wert darauf, keine unnötigen Fremdwörter noch akademischen Jargon zu benutzen. Damit setzte er sich von Wortmagiern wie Martin Heidegger oder Jacques Derrida genauso ab wie von Worttechnikern der analytischen Philosophie, wie etwa Rudolf Carnap. Wenngleich er Standardeinführbände in die analytische Philosophie des Geistes und der Erkenntnis vorgelegt hat, war ihm besonders wichtig zu betonen, „Was von der analytischen Philosophie übrigbleibt, wenn die Dogmen gefallen sind“, wie er einen Vortrag nannte, in dem er sein Ideal von Philosophie skizzierte. Danach hat die Unterscheidung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie keine sachliche Grundlage und ist aufzugeben: „Historisch informiert suchen wir die beste Orientierung, die wir bekommen können“. Dafür hielt Bieri gedankliche Klarheit für zentral, nicht im Sinne von logischer oder naturwissenschaftlicher Exaktheit, sondern im Sinn von kontextueller Genauigkeit.
Grenzgänger zwischen Philosophie und Literatur
Inhaltlich interessierte ihn unter anderem besonders, wie sich das, was wir alle als „innere Erfahrung“ kennen (wie es ist, Todesangst zu haben, Mutter zu werden, eine religiöse Ekstase zu erleben, oder ein besonders delikates Schokoladenmousse zu essen) mit dem zusammendenken lässt, wie man theoretisch plausibel unseren Weltzugang konzeptualisiert. Bieri fand einen epistemischen Nominalismus überzeugend, nach dem alle Erfahrung begrifflich und in Sätzen strukturiert ist. Doch darin hat die Idee von innerer Erfahrung keinen Platz, wenn dazu die Überzeugung gehört, dass einem ein Wissen über Erfahrungen fehlt, wenn man sie noch nie gemacht hat. Im Aufsatz Nominalismus und innere Erfahrung führt er dieses Problem im Detail aus – und lässt es stehen. Dafür, dass es innere Erfahrung im nicht-nominalistischen Sinn gibt, spricht nach Bieri unter anderem ein Phänomen, das erklärt, warum Literatur für viele Menschen so bedeutsam ist: In Romanen und Essays finden wir nicht selten Erfahrungen präzise beschrieben, die wir selbst so oder ähnlich schon erlebt haben, ohne dass wir sie schon so klar hätten in Worte fassen können. Erst die Lektüre ermöglicht es uns, und damit, die Erfahrungen zu verstehen, uns selbst transparenter zu werden und ein reichhaltigeres Bild des menschlichen Lebens insgesamt zu erhalten.
Dies ist eine der Schnittstellen zwischen Philosophie und Literatur, die Bieri umgetrieben haben. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier stellte er zunächst der Philosophie die Belletristik an die Seite. Später ließ er die Philosophie sogar in einem Sinn hinter sich, nämlich als Tätigkeit, in der erklärende Theorien zu entwickeln wären. Nach einigen Romanen, darunter der Weltbestseller Nachtzug nach Lissabon, schreibt er in dem philosophischen Buch „Würde. Von einer Art zu leben“ ausdrücklich, dass es ihm nicht um eine Theorie gehe, nicht um notwendige und hinreichende Bedingungen, sondern vor allem um die Vergegenwärtigung von vertrauten Erfahrungen.
Freiheit lehren
Das erste Buch für die größere Öffentlichkeit, Das Handwerk der Freiheit, war noch nicht so weit von den akademischen Diskussionen entfernt. Es ging aber in seiner Komposition und Anschaulichkeit schon weit über sie hinaus. Bieri vertritt darin eine kompatibilistische Position in der Debatte um die Willensfreiheit, also eine, nach der wir willensfrei sein können, auch wenn ein durchgängiger Determinismus der Welt wahr sein sollte. In unnachahmlicher Klarheit im oben genannten Sinn und mit reichhaltigen Beispielanalysen, vor allem unter Rückgriff auf Fjodor Dostojewskis Schuld und Sühne, führt er das Lesepublikum darin aus dem gedanklichen Irrgarten heraus, nach dem es nur entweder Determinismus oder Willensfreiheit geben könne. Er entwickelt die zunächst verblüffende Lösung, dass die Idee einer völlig unbedingten Freiheit selbst eine unverständliche sei und wir also gerade, um frei sein zu können, auf bestimmte Bedingungen angewiesen wären. Eine Wahl ohne Gründe sei genau genommen gar keine Wahl. Und die Gründe seien letztlich verankert in der Welt.
Dieses ebenfalls sehr erfolgreiche Buch ist in gewissem Sinn die Ausweitung von Bieris besonderer Fähigkeit, Philosophie zu lehren, auch für alle Staunenden, Rätselnden, Fragenstellenden außerhalb der Universität. In methodischen Intermezzi erläutert er sein Vorgehen im Detail und ermutigt damit alle, bei dieser konkreten, aber auch bei anderen Fragen selbst ähnliches zu tun – eben zu philosophieren. Am 27. Juni ist Peter Bieri im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben. •
Eva Weber-Guskar ist seit 2019 Heisenberg-Professorin für Ethik und Philosophie der Emotionen an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuell arbeitet sie zur Ethik emotionalisierter künstlicher Intelligenz im interdisziplinären Forschungsprojekt „INTERACT! Neue Formen sozialer Interaktion mit intelligenten Systemen“ und zu zeitlichen Aspekten des guten Lebens. Sie ist Gründungsmitglied von PhilPublica, einer Initiative zur Förderung akademischer Philosophie in der Öffentlichkeit und leitet ab Herbst 2023 die philosophische Gesprächsreihe „Denkraum“ am Theater Oberhausen.