Kann sich Menschenwürde für alle nur jenseits nationalstaatlicher Souveränität erfüllen?
In seinem Buch Recht und Gemeinschaft. Zu Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte legt Friedrich Weißbach den paradoxen Kern der Menschenrechte frei, der sich an der rechtlichen Lage von Geflüchteten offenbart. Mit Hannah Arendt bietet er beachtenswerte Anregungen, wie sich Freiheit und Gleichheit denken ließen, die tatsächlich universell gelten.
Das Berliner Verwaltungsgericht erklärt die von der neuen Bundesregierung kürzlich angeordneten Zurückweisungen an der deutsch-polnischen Grenze für unvereinbar mit europäischem – und damit mit deutschem – Recht. Auch wenn das Vorgehen, Menschen ohne Anhörung und ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, an der Grenze abzuweisen, auf den ersten Blick durch die territorialen Souveränitätsansprüche der Nationalstaaten gerechtfertigt erscheinen kann, widerspricht es den Menschen- bzw. Asylrechten. Dem Urteil zum Trotz kündigte das deutsche Innenministerium an, die Gerichtsentscheidung gewissermaßen zu ignorieren und die Zurückweisungen fortführen zu wollen. Damit aber gerät der Rechtsstaat in einen performativen Selbstwiderspruch: Während man auf der einen Seite bereit ist, die auf den Menschenrechten aufbauenden rechtsstaatlichen Normen in ,Einzelfällen‘ zu garantieren, setzt man diese Gesetze auf der anderen Seite mit Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft und stellt so letztlich ihre allgemeine Gültigkeit in Frage. Mit Verweis auf Rechtsstaatlichkeit wird der Rechtsstaat untergraben.
Vor diesem Selbstwiderspruch ist das vor Kurzem erschienene Buch Recht und Gemeinschaft. Zu Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte von Friedrich Weißbach zu lesen. Darin setzt der Autor sich mit der Frage auseinander, warum sich die Menschenrechte gerade für diejenigen Menschen als so wirkungslos erweisen, „die aufgrund des Verlustes ihres sie schützenden staatlichen Souveräns am meisten auf sie angewiesen wären“. Dazu wendet sich Weißbach Hannah Arendts Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus dem Jahr 1951 und der darin entfalteten Auseinandersetzung mit den Menschenrechten zu. Mit Arendt liest er die rechtlich unsichere Lage von Geflüchteten als Symptom eines paradoxen Kerns der liberalen Staatenordnung selbst.
De jure rechtlos
Wie ist das zu verstehen? Als normativen Grund legitimieren die Menschenrechte seit der Französischen Revolution moderne Demokratien. Weil alle Menschen frei und gleich sind – so der Gedanke –, darf kein Mensch als Souverän über den anderen stehen. Das Volk regiert sich selbst und verwirklicht damit die Freiheit und Gleichheit seiner Angehörigen, der Bürger und Bürgerinnen. Dies impliziert, dass kein Gesetz über den Entscheidungen des Volkes stehen darf. Das so gedachte demokratische Staatsverständnis steht letztlich jedoch konträr zur Idee der Menschenrechte, so Arendt und Weißbach. Denn die Menschenrechte haben durchaus den Anspruch, über die territorialen Grenzen und somit über den Einflussraum des Volkssouveräns hinweg zu wirken. Sie stehen über der Souveränität, die von ihnen selbst begründet wird. Dieser Kurzschluss führt dazu, dass es immer wieder zu widersprüchlichen Situationen kommt; dass sich Konstellationen ergeben, in denen die Menschenrechte gegen eben jenen Volkswillen stehen, dem ihre konkrete Verwirklichung gilt.
Diese widersprüchliche Situation, so zeigt Weißbach mit Arendt, hat nun aber wiederum unmittelbare Folgen für die Menschenrechte selbst. Denn obschon sie universell deklariert sein mögen, bedürfen sie immer einer nationalen Verwirklichung. Am Schicksal Geflüchteter verdeutlicht sich, dass Rechte nie a priori gelten, sondern stets von einem Souverän – von einem Staat – abhängig sind, der ihre Durchsetzung garantiert. In einer vollständig in Nationalstaaten organisierten Welt impliziert dies, dass die Wahrnehmung von Rechten an die Zugehörigkeit zu einer wiederum nationalstaatlich organisierten Rechtsgemeinschaft geknüpft ist. Geflüchtete, die sich auf ihre vorhergehende Rechtsgemeinschaft nicht mehr aktiv berufen können, sind in ihrer Rechtsfähigkeit dadurch weitgehend eingeschränkt.
Und diese Einschränkung, so rekonstruiert Weißbach mit Arendt aufschlussreich, ist nicht etwa auf die Entziehung von Rechten zurückzuführen, sondern darauf, dass Geflüchtete so unter Umständen zu faktisch Rechtlosen degradiert werden können. Ihren ‚alten‘ Staat verlassend und noch keinem ‚neuen‘ eingegliedert, können sich Geflüchtete aus jeglicher nationalstaatlichen Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen wiederfinden. Ohne einen Souverän, ohne einen Staat, der ihre Rechte durchsetzt, werden diese Menschen unter Umständen nicht mehr als Rechtssubjekte anerkannt: Sie verlieren nicht nur partikulare Rechte wie zum Beispiel das Recht zu wählen, sie verlieren den Status, faktisch Träger von Rechten zu sein. Sie haben keinen Ort – keinen Staat, kein mit Sicherheit zuständiges Gericht – mehr, an dem ihre Ansprüche gehört oder verhandelt werden müssen, da Rechte eben immer an eine politische Gemeinschaft gebunden bleiben, die diese garantiert. Wir haben es in diesen Fällen also nicht mit einem ‚bloßen‘ Rechtsentzug zu tun, wie er unter anderem bei Gefängnisstrafen auftritt. Vielmehr können Menschen in derart gestalteten Fällen aus der politischen Ordnung und damit aus dem Raum herausfallen, der sie durch seine Anerkennung erst zu faktischen Rechtssubjekten machen würde. Wenn auch nicht de jure, so sind sie doch de facto rechtlos.
Die Illusion des Absolutheitsanspruchs
Der eingangs erwähnte Fall von Frankfurt (Oder) zeigt, dass die Betroffenen von der Polizei entgegen gültigem Recht abgeschoben werden können und ihnen dabei unmittelbar keine wirksame Möglichkeit bleibt, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Zugleich zeigt der Fall jedoch auch, dass ihnen hier selbst in dieser rechtsstaatlich angespannten Situation ein gewisser Handlungsspielraum geblieben ist: Die betroffenen Personen konnten rechtlich gegen ihre Abschiebung vorgehen. Durch die Anhörung am Berliner Verwaltungsgericht und dessen Entscheidung wurden sie als Rechtssubjekte anerkannt. Und wenn ihnen diese Anerkennung zukommen konnte, so können theoretisch auch andere Betroffene dagegen klagen, also auch sie als Rechtssubjekte anerkannt werden. In Frankfurt (Oder) bzw. am Berliner Verwaltungsgericht konnte der Widerspruch sichtbar werden, gerade weil es zur Klage kam. Anders gestaltet sich die Lage im Mittelmeer. Dort ist das Schicksal der Betroffenen zumeist der Unsichtbarkeit preisgegeben; die Pushbacks auf hoher See verwehren den Geflüchteten jegliche Handlungsoptionen. Die Betroffenen haben keine Möglichkeit, sich zu wehren oder gehört, gesehen zu werden, sich Recht zu verschaffen. Vor dem Hintergrund der Umstände im Mittelmeer – und auf dessen Meeresgrund – wird deutlich, dass die Anerkennung als Rechtssubjekt auch entscheidend ist, um Missstände sichtbar und damit politisch verhandelbar zu machen. Wo selbst dieses Mindestmaß an Sichtbarkeit und rechtlicher Geltung fehlt, kann selbst der Widerspruch unsichtbar bleiben.
Die Janusköpfigkeit, den inneren Widerspruch bringt Weißbach treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Menschenrechte untergraben sich gerade in dem Moment, in dem sie verwirklicht werden. Sie sind dementsprechend, gerade weil sie sich in den [nationalstaatlichen] Verfassungen verwirklichen und auch tatsächlich dazu dienen gegen bestehendes Unrecht aufzubegehren und für eine Menschenwürde zu kämpfen, nicht in einem einfachen Verständnis nur falsch. Sie sind gleichzeitig wahr und falsch. Ihre Wahrheit steckt in der Idee der Menschenwürde. Ihre Falschheit zeigt sich paradigmatisch an dem Schicksal der Recht- und Staatenlosen, die nicht die Rechte haben, die sie aufgrund ihres Menschseins haben sollten.“
Weißbach zeigt deutlich, dass sich ein Rechtsstaat, der die Rechte Geflüchteter nicht einhält, gleich doppelt delegitimiert: Einerseits widerspricht er seiner verfassungsrechtlichen Grundlage, andererseits erzeugt er für Geflüchtete faktische Rechtlosigkeit. Doch was bedeuten diese Überlegungen für die Menschenrechte? Vor gut 70 Jahren gelangte Arendt in ihrer Analyse zu dem ernüchternden Schluss, dass sich die als Meilenstein des humanistischen Fortschritts gefeierten Menschenrechte in der Realität für Geflüchtete als potenziell wirkungslos erweisen und in ihrem Absolutheitsanspruch eine Illusion darstellen (müssen). Und noch mehr: Aufgrund ihrer rechtlichen Konstitution stehen sie auch einer wahren Verwirklichung tatsächlicher Freiheit und Gleichheit aller Menschen im Wege. Wie Weißbach pointiert offenlegt, ist die Realisierung der Idee der Menschenrechte – nämlich die Garantie der Menschenwürde aller Menschen – nur jenseits der bestehenden politischen Ordnung nationalstaatlicher Souveränität zu verwirklichen: „Wenn wir die Menschenwürde aller schützen wollen,“ so Weißbach, „dürfen wir das Recht nicht länger als Besitzstand der Staatsbürger begreifen.“
Freiheit und Gleichheit als Ideale
An diesem Punkt angelangt, stellt sich aber die Frage: Haben wir denn Alternativen? Wie kann eine politische und rechtliche Ordnung jenseits der Aporie der Menschenrechte aussehen? Im Anschluss an eine minutiöse Sektion von Arendts Kritik der Menschenrechte, durchleuchtet Weißbach das Werk der Philosophin nach Denkansätzen, die dabei helfen, herauszufinden, wie eine post-souveräne politische Ordnung aussehen kann. Er zeigt, dass alternative Ordnungen mit Arendt nicht nur denkbar sind, sondern in konkreten historischen Momenten der Revolution teilweise bereits faktisch verwirklicht wurden. Eine politische Ordnung, die nicht auf Herrschaft aufbaut, bedarf einer horizontalen demokratischen Organisation, wie sie Arendt beispielhaft in Räterepubliken und Townhall Meetings erfüllt sah.
Zudem bedarf es – so Weißbach – eines grundlegend anderen Verständnisses von Gemeinschaft, das sich nicht länger durch Abgrenzung, sondern durch eine stete Einbeziehung des Anderen definiert. In Übereinstimmung mit Arendt lehnt Weißbach die Idee eines Weltstaats dennoch ab. Stattdessen entwickelt er Ansätze, wie Gemeinschaft jenseits nationalstaatlicher Grenzen gedacht werden kann, wobei er sich insbesondere mit der Funktion und Bedeutung von Grenzen auseinandersetzt. Weißbach betont die Notwendigkeit von Grenzen, da sie den politischen Raum strukturieren und definieren – und damit überhaupt erst politische Ordnung ermöglichen. Dabei versteht er Grenzen jedoch nicht als starre oder unüberwindbare Barrieren, sondern als dynamische Orte der Aushandlung. In Anlehnung an Seyla Benhabib plädiert er für „bedingt durchlässige“ Grenzen, die nicht nur Bewegung zulassen, sondern auch zum Raum der Befragung und des politischen Dialogs werden können. Dies impliziert ein verändertes Verständnis von Freiheit und Gleichheit. Beide sollen nicht länger als natürlich angeborene Eigenschaften des Menschseins begriffen werden, die es zu schützen gilt. Vielmehr müssen wir sie als Ideale fassen, die „immer erst noch“ durch Gemeinschaften verwirklicht werden müssen. Ihre Erfüllung steht immer erst noch aus.
Weißbachs Auseinandersetzung mit Arendts Kritik der Menschenrechte rührt an den Fundamenten unseres rechtsstaatlich-demokratischen Selbstverständnisses ebenso wie an denen der politischen Theorie. Dabei führt er einen überaus schlüssigen Faden durch Arendts Gesamtwerk. Weißbach gelingt es, selbst ihre komplexesten Theorieregionen verständlich und gangbar zu machen und das macht die Lektüre des Buches zu einer erkenntnisreichen Leseerfahrung. Wer verstehen will, warum die aktuelle Grenzpolitik der Bundesregierung wie die gesamteuropäische Abschottung kein Ausnahmezustand, sondern Menetekel unserer bestehenden Rechtsordnung und politischen Konstitution ist, wird in Friedrich Weißbachs Buch Recht und Gemeinschaft. Zu Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte erhellende Gedankenanstöße finden. •
Das Buch „Recht und Gemeinschaft. Zu Hannah Arendts Kritik der Menschenrechte“ von Friedrich Weißbach ist kürzlich im Lukas Verlag erschienen.