Seyla Benhabib: „Wer Adorno nicht liest – dem geht ein Stück der geistigen Welt verloren“
Seyla Benhabib ist eine der wichtigsten politischen Philosophinnen der Gegenwart. Zu ihren Schwerpunkten zählen Feminismus und Kritische Theorie. Heute vor 75 Jahren wurde sie in Istanbul geboren. Im Interview erläutert sie, wie man mit Adorno gegen den Rechtsruck andenken kann.
Frau Benhabib, in Ihrer Dankesrede zur Verleihung des Adorno-Preises haben Sie das politische Potenzial von Theodor W. Adornos Philosophie stark gemacht. Das steht einer Adorno-Rezeption entgegen, in der sein Denken nicht nur als äußerst voraussetzungsvoll gilt, sondern vor allem auch als zu abstrakt, ästhetizistisch und zu pessimistisch für eine zukunftsorientierte Politik.
Adorno gehört zu den Klassikern der deutschen Philosophie. Seine Schriften sind in der Tat nicht leicht zugänglich. Sie zu verstehen, verlangt eine gewisse Disziplin und auch ein gewisses Hintergrundwissen zur deutschen philosophischen Tradition. Allerdings gibt es mit der Aphorismen-Sammlung Minima Moralia oder seinen Radiovorträgen ja auch Veröffentlichungen, die leichter zugänglich sind als seine Hauptwerke wie die Negative Dialektik oder die Dialektik der Aufklärung. Wer Adorno nicht liest, dem geht ein Stück der geistigen Welt verloren.
In Ihrer Rede haben Sie sich vor allem auf Adornos Begriff des „Nicht-Identischen“ bezogen. Inwieweit hilft dieses Konzept, eine immer autoritärer werdende Welt zu verstehen?
Das Konzept hat mich schon lange fasziniert. Adorno versteht darunter den Teil eines Subjektes, der nicht dominiert und beherrscht werden kann. Das Nicht-Identische ist daher etwas, das stets bleibt; eine, wie er mit Edmund Husserl sagt, „unableitbare Gegebenheit“. Ich interpretiere das Nicht-Identische als etwas Antiautoritäres, weil es nicht in dem aufgeht, was ich falsche Universalien nenne. Damit meine ich Kategorien wie „die Nation“, „das Volk“, „die Genossen“ oder „unsere Seite“, wie sie sich aktuell vor allem im Rechts- und Linkspopulismus finden lassen. Das Beharren auf dem Nicht-Identischen hat ein Widerstandspotenzial, weil Differenz dann nicht in diesen Scheineinheiten verloren gehen kann. Darin sehe ich ein politisches Moment. Es ermöglicht uns, die Widerstandskraft des Individuums stärker in den Blick zu nehmen.
Ihre Kritik der „falschen Universalien“ haben Sie in Ihrem Vortrag mit Adornos Theorie der autoritären Persönlichkeitsstruktur verknüpft. Auf das Aufscheinen des Nicht-Identischen reagieren solche Menschen demnach mit einer starken Abwehr. Den Antisemitismus etwa hat Adorno einmal als den „Hass auf das Nicht-Identische“ bezeichnet.
Wenn Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung den zeitgenössischen Antisemitismus analysieren, benutzen sie psychoanalytische Kategorien. Im Antisemitismus sehen sie eine Ablehnung des Nicht-Identischen, die vor allem auf Projektionen eigener Wünsche beruht. In der Fantasie gelten die Juden als eine Gruppe, die das darstellen, was man eigentlich selbst gerne hätte und was man ihnen daher neidet, aber nicht so gerne als eigenen Wunsch benennt: zum Beispiel Macht oder Geld. Eine Mischung aus Projektion, Fantasie, Paranoia und Angst findet sich aber auch bei Vorurteilsstrukturen und Ressentiments gegenüber anderen Gruppen. Doch auch über die Analyse des Antisemitismus und der autoritären Persönlichkeit hinaus halte ich das Nicht-Identische für ein sehr reichhaltiges Konzept. Auch auf einer abstrakteren, epistemologischen Ebene hilft es etwa beim kritischen Nachdenken über aktuelle politische Debatten.
Würden Sie das näher erläutern?
Da viele Debatten im Moment sehr identitär geführt werden, fehlt mir häufig das, was Immanuel Kant als „erweiterte Denkungsart“ bezeichnet hat. Damit ist die Fähigkeit und auch die moralische Pflicht gemeint, sich den Standpunkt und die Perspektive des Anderen vergegenwärtigen zu können. Das bedeutet nicht unbedingt, sich empathisch in den Standpunkt des anderen einzufühlen, diesen zu akzeptieren oder ihm zuzustimmen. Die „erweiterte Denkungsart“ bedeutet, wie Kant es formuliert hat, beim Anderen zu fragen, „ob ich um ihre Zustimmung werben kann“. Das beinhaltet ein Moment von Achtung und Respekt. Das Ziel ist dabei nicht Konsens, sondern Verständigung. Das hat auch ein prozessuales Moment. Identitäre und autoritäre Politik hingegen plädiert mit ihren „falschen Universalien“ dafür, das Nicht-Identische zu opfern. Das steht einem Prozess der Verständigung entgegen. Wenn ich etwa von Donald Trump oder auch aus der AfD höre, wie gegen Migranten als „Kriminelle“ gewettert wird, dann fällt auf, dass es in ihrer Projektion immer einen Feind geben muss. Ihre Politik basiert normativ auf dem Feind-Freund-Gegensatz, der gepflegt und ontologisiert wird. Auf einer strukturellen, abstrakteren Ebene ist auch hier der Feind das Nicht-Identische.
Ein weiteres zentrales Feindbild ist für identitäre Populisten der Kosmopolitismus: etwa in Gestalt einer ominösen „globalistischen Elite“ oder in Form der politischen Arbeit von NGOs, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen. In Ihrem philosophischen Werk plädieren Sie für einen „Kosmopolitismus ohne Illusionen“. Was genau verstehen Sie darunter?
Häufig wird der Kosmopolitismus mit Vielfliegerei und Neoliberalismus in eins gesetzt. Diese linkspopulistische Verkürzung des Kosmopolitismus enthält ein gefährliches Moment von Antiuniversalismus, das ich ablehne. Der Kosmopolitismus ist ursprünglich eine Idee aus der antiken griechischen Philosophie, die sich zur Zeit der Aufklärung in fantastischer Weise wandelt, wenn Kant seine Idee der „Weltbürgerschaft“ formuliert. Selbstverständlich kann man den Kosmopolitismus nicht kritik- und kontextlos verteidigen. In der Kant’schen Idee der Weltbürgerschaft und der kosmopolitischen Tradition der Aufklärung liegt für mich aber noch immer ein enormes emanzipatorisches Potenzial. Dieses Potenzial ist die Idee einer Menschheit, die lernt, miteinander in einer Welt zu leben, die nach Gesetzen und Regeln funktioniert und nicht nach Krieg und Plünderung; eine Menschheit, welche die Gastfreundschaft der Anderen genießen kann, obwohl Gastfreundschaft auch Feindseligkeit beinhalten kann. Die Begegnung mit dem und den Anderen ist nie einfach und reibungslos. Hat der Andere wirklich friedliche Absichten oder steckt etwas hinter seinem Versuch, sich mit mir zu treffen oder mich zu besuchen? Die Andersartigkeit des Anderen kann uns provozieren, uns verunsichern. Diese Verunsicherung gehört ebenfalls zur Erfahrung des Kosmopolitismus.
… und kann auch zu Revisionen oder Erweiterungen seiner Theorie führen. In Ihrem neuesten Buch Kosmopolitismus im Wandel haben Sie genau das getan: Mit Ansätzen postkolonialer Kritik und der Klimakatastrophe haben Sie zwei zentrale Themen aktueller politischer Debatten berücksichtigt, die bislang kaum Teil der Debatte zu Theorie des Kosmopolitismus waren.
Mir geht es darum zu zeigen, dass die postkoloniale Kritik durchaus ernst genommen werden kann. Denn es liegt ja auf der Hand, dass die Idee des Universalismus in der Erfahrung der westlichen Moderne zusammenging mit Rassismus, Sexismus und anderen Formen der Diskriminierung von Menschen, die als nicht „zivilisiert“ genug angesehen wurden. Aber man muss sich nicht direkt gegen den Kosmopolitismus als solchen wenden. Ganz im Gegenteil. Es gibt faszinierende Arbeiten von jüngeren postkolonialen Forschern, die sich etwa mit regionalen Kosmopolitismen in der Karibik am Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigen oder mit Ansätzen von Kosmopolitismus im Konfuzianismus oder im Islam. Diese Perspektiven lehnen den Universalismus nicht ab, sondern stehen für eine Erweiterung des Blickes auf das Lokale innerhalb eines größeren Kontextes und für die Möglichkeit von Kooperation. Der Aspekt der Kooperation ist ebenfalls wichtig für das Nachdenken darüber, wie sich der Begriff vom Kosmos im Lichte der Klima-Katastrophe verändert. Schon bei Kant gibt es einen Begriff der Welt als Erdkugel; als Globus, auf dem man sich nicht endlos ausdehnen kann, weil wir früher oder später anderen Menschen begegnen, mit denen wir uns diese Erdkugel kooperativ teilen müssen. Heute müssen wir die Erdkugel aber auch innerhalb des Kosmos verorten. Genau das machen die interessanten Denker des Anthropozäns.
Inwieweit kann diese Perspektive mit Adornos Materialismus zusammengebracht werden?
Ich denke vor allem an Adornos Satz vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“. Seine Kritik an der Vorstellung der Natur als totem Gegenstand ist vielschichtig. „Naturgeschichte“ ist für ihn keineswegs die Geschichte der Natur, wie wir sie in Geologie- oder Geographiebüchern lesen. Sie ist vielmehr, wie er schreibt, die Frage nach der „inneren Zusammensetzung von Naturmomenten und geschichtlichen Momenten innerhalb der Geschichte selbst.“ Das entspricht genau dem, was wir heute Anthropozän nennen. Das Anthropozän bezeichnet eine Epoche in der Entwicklung der Erde, in der das kumulative Eingreifen des Menschen in die natürlichen Ereignisse die Zukunft des Planeten grundlegend verändert hat. Mit seinem Konzept der „Naturgeschichte“, in der menschliche Geschichte und die Geschichte der Erde miteinander verschmelzen, nimmt Adorno diese Perspektiven bereits vorweg. •
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