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Bild: © Arnd Dewald; Espen Rasmussen/Panos

Interview

Daniel Leese: „In deutschen Debatten dient China oft nur als Chiffre”

Daniel Leese veröffentlicht am 04 Oktober 2023 9 min

In China gibt es nur Parteimarxismus? Weit gefehlt, wie der Sinologe Daniel Leese erläutert. Ein Gespräch über neue Linke, alte Bekannte aus dem Westen und die Suche nach dem chinesischen Schlüssel als achter Teil unserer Reihe Was gibt es Neues im 21. Jahrhundert?

Lesen Sie hier die bisherigen Texte der Reihe:

• Nach der Postmoderne: Was gibt es Neues im 21. Jahrhundert?
• Neuer Realismus – Der Mensch ist kein Idiot
• Experimentelle Philosophie – Der Stuhl muss brennen
• Nikita Dhawan: „Wir tragen das Erbe des Kolonialismus in uns“
• Katharina Hoppe: „Die Neuen Materialismen wollen mit dem Anthropozentrismus brechen“
• Jens Soentgen: „Die Neue Phänomenologie will die durchschnittliche Lebenserfahrung möglichst genau darstellen“
• Queer Theory: Freischwebende Artefakte


Herr Leese, womit beschäftigt sich das chinesische Denken der Gegenwart?

Seit etwa zehn, fünfzehn Jahren ist chinesische Identität das dominierende Thema. Dazu gehört die Frage nach Anerkennung der eigenen Leistungen und die Suche nach einem eigenständigen Entwicklungspfad, bis hin zu neuen Weltordnungsentwürfen. 

Und wie wird in China darüber nachgedacht?

Es gibt verschiedene Denkströmungen. Da ist zunächst die Neue Linke, die in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entstanden ist. Ihr geht es um die Frage, welche sozialen Auswirkungen die Globalisierung hat und ob man Teile des maoistischen Erbes, etwa die Idee der Gleichheit, in die Gegenwart retten kann. Diese Strömung grenzt sich vor allem von den Liberalen ab, die in den 1980er Jahren dominierten. In den 1990er Jahren gelangten viele von ihnen in Führungs- oder Beratungspositionen. Sie vertraten wirtschafts- oder linksliberale Positionen, die wir auch aus dem Westen kennen. Drittens gibt es die Festlands-Neukonfuzianer, die sich seit den späten 1980er Jahren formiert haben, aber zumeist nur eine Nische besetzen. Sie haben partiell Schnittmengen mit den Liberalen, vertreten jedoch insbesondere kulturkonservative Ansichten. Daneben gibt es, viertens, die Neoautoritären, die sich vor allem in den vergangenen zehn Jahren zu einer einflussreichen intellektuellen Strömung entwickelten. Ihr Denken kreist um das nationale Wiedererstarken, nicht selten berufen sie sich auf Carl Schmitt oder Leo Strauss.

Autoritäre sind also keine Konfuzianer?

Es gibt auch im Neukonfuzianismus hierarchisch-autoritäre Entwürfe, diese kreisen jedoch vor allem um soziale Beziehungen, meritokratische Verfahren und die Vorbildfunktion einer idealisierten Vergangenheit. Die Vertreter des Neoautoritarismus bezeichnen die Konfuzianer daher oft als „Archaiker“. Ihr eigenes Denken dreht sich vor allem um die Rolle des Staates und die Zentralisierung der Macht. Zu den bekanntesten Vordenkern gehört Wang Huning, heute die Nummer Drei der Partei. Er stellte sich bereits in den 1980ern die Frage, wie man möglichst effektiv wirtschaftliche Reformen umsetzen kann und schaute nach Singapur oder das noch autoritär regierte Südkorea. Er kam zu dem Schluss, dass man eine starke Zentralgewalt für die Umsetzung umfassender Reformen braucht. 

Sie haben Wang Huning einmal als den „einflussreichsten Intellektuellen der Welt“ bezeichnet. Wer ist der Mann? Und was will er?

Die Ehre gebührt dem Chef vom Dienst der Süddeutschen Zeitung. Ich hatte die Bezeichnung: „Der Mann im Schatten“ vorgeschlagen. Wang Huning betritt in den 1980er Jahren die Bühne als junger Politikprofessor in Shanghai und erlangt Berühmtheit für sein Coaching des Debattierteams der Fudan-Universität, mit dem er internationale Titel gewinnt. Bis 1995 publiziert er mit hoher Schlagzahl Bücher und Artikel, dann wird er von Jiang Zemin in die Politik geholt und veröffentlicht seitdem nichts mehr unter seinem Namen. Einige Grundzüge seines Denkens lassen sich aber schon damals erkennen: Es geht ihm um nationale Stärke, aber auch um Effizienz, also darum, eine Gesellschaft mit möglichst wenig Reibungsverlusten zu steuern. 1991 hat er sein berühmtes Buch America Against America veröffentlicht. Darin schreibt er: Ein großer Vorteil amerikanischer Unternehmen sei es, dass sie de facto einen Großteil der Disziplinierung der Bevölkerung übernehmen und daher das politische System entlasten, während in der Volksrepublik China auch Arbeitskonflikte leicht zu einem Systemkonflikt werden können, da alles mit dem Staat verbunden ist. Wang Hunings Grundfrage lautet: Wie können wir den Staat effizienter organisieren, insbesondere vor dem Hintergrund der Megatrends von Hedonismus und Individualisierung, die auch die Partei nicht umkehren kann. Es geht ihm also zentral um Steuerungsfragen bis hin zum Sozialkredit-System. Er gibt sich aber auch als Kulturkonservativer, als Fan von Allan Bloom und Samuel Huntington, der sich Gedanken darüber macht, was eine Gesellschaft zusammenhält und wie man es schafft, sozialistische Kernwerte zu stiften.

Bloom ist ein Vordenker der US-Neokonservativen. Auch Strauss, Schmitt und Huntington sind bei uns bekannt. Ist der Autoritarismus ein westlicher Denkimport?

Nicht ausschließlich. Es gibt auch in China eine autoritäre Tradition, die man als „Legalismus“ bezeichnet. Vor über 2300 Jahren verfasste Shang Yang, gewissermaßen der chinesische Machiavelli, das Shangjun shu, eine Schrift über die maximale Zentralisierung der Macht, die von der konfuzianischen Tradition verteufelt wurde. Man hätte also auch auf eigene Traditionen zurückgreifen können, wie es etwa Mao Zedong während der Kulturrevolution tat. Nach Maos Tod wurde jedoch die gesamte chinesische Tradition, inklusive des Sozialismus, in Frage gestellt. Dies erzeugte eine erneute Offenheit für Gedanken von außen, etwa aus Japan oder dem Westen. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten lässt sich ein großes Interesse an westlichen Staatsdenkern beobachten – von Platon und Sokrates bis zu Schmitt und Strauss.  

Müssen wir uns die intellektuelle Geschichte Chinas als ein Ringen der vier Denkströmungen vorstellen?

In der Tat, jeweils in Abhängigkeit von politischen Persönlichkeiten, welche spezielle Denkströmungen protegieren. Gerade unter den Generalsekretären Jiang Zemin und Hu Jintao gab es in der Volksrepublik, anders als man im Westen vielleicht denkt, sehr harte Diskussionen zwischen den Lagern. Der Philosoph Gan Yang zeigt zum Beispiel, wie sich Neue Linke, Liberalismus und Konfuzianismus zeitweise bis aufs Messer bekämpften und forderte eine Synthese, ein „Vereinen der drei Traditionen“. Umstritten ist vor allem die Frage, wie man mit dem maoistischen Erbe umgehen soll: Kann man aus dieser Zeit positive Elemente übernehmen? In den 1980er Jahren lautete der Konsens: Wir brauchen einen radikalen Schnitt. In den 90ern hingegen, als der Strukturwandel in Teilen des Landes zu einer Deindustrialisierung führt, entstand vermehrt eine sozialistische Nostalgie. Die Schärfe der Auseinandersetzungen führte dazu, dass unter Xi Jinping verboten wurde, auf Basis des Maoismus die Gegenwart zu kritisieren oder umgekehrt.

Gibt es Allianzen zwischen den Strömungen? Und dominiert eine von ihnen? 

Ich plädiere dafür, das Denken als Feld zu sehen, das aus mehreren Polen wie Kapitalismus und Sozialismus oder Fraternalismus und Paternalismus besteht, zwischen denen sich die einzelnen Denker bewegen, nicht zuletzt in Abhängigkeit von der aktuellen Politik. Einige schwanken über die Jahre beträchtlich. Allianzen gibt es vor allem auf individueller Ebene. Die Neue Linke und die Neoautoritären sind derzeit sehr nah beieinander und zunehmend einflussreich. Die Liberalen erfahren hingegen harsche Kritik, bis hin zu Hausarrest und Berufsverboten. Die Konfuzianer stehen eher am Rand und machen sich immer wieder Hoffnung, irgendwann einmal eine wichtigere Rolle zu spielen. 

Neben dem intellektuellen gibt es ein politisches Kräftefeld zwischen Partei und Diskurs. Welche Rolle spielt die Kommunistische Partei in den Debatten? 

Unter Xi Jinping hat die Partei die Meinungsführerschaft über den öffentlichen Diskurs wieder massiv eingefordert und setzt dies mit aller Härte durch. Andererseits braucht die Partei die Intellektuellen als Ressource. Mao war der letzte Parteiführer, der intellektuell in der Lage war, die Theorieproduktion aktiv selbst mitzuprägen. Deng Xiaoping hatte an abstrakter Theorie nur sehr begrenztes Interesse. Seine Nachfolger waren auf „Hüter des Diskurses“ angewiesen, die ihnen jeweils Denkschablonen entwarfen, die dann als offizielle Parteiideologie propagiert wurden. 

Mao bezeichnete die Intellektuellen als „Schrauben“ im Getriebe der Revolution. Was meinte er damit? 

Mao betrachtete die Intellektuellen als Mitglieder der kleinbürgerlichen Klasse, die umerzogen werden müssen. Das geschah seit den 1950er Jahren mit Hilfe großer Kampagnen. Mitte der 1950er Jahre gab Mao dann die Parole aus: Ihr seid erfolgreich umerzogen und dürft Fehlentwicklungen kritisieren. Als sich diese Kritik im Rahmen der „Hundert-Blumen-Bewegung“ dann aber partiell zu Systemkritik ausweitete, nahm Mao schnell wieder seinen alten Standpunkt ein und beschrieb das Vorgehen als Taktik, um unerkannte Konterrevolutionäre zu enttarnen.

Was hat sich seither geändert?

Die Forderung, eine Schraube im Getriebe der Revolution zu sein, änderte sich unter Deng Xiaoping. Er wertete die Rolle der Intellektuellen massiv auf. Er sagte: Für unsere Reformen ist Wissen eine zentrale Ressource. Und dafür brauchen wir euch. Dies geschah parallel zur Entstigmatisierung der Kapitalisten, vor allem der exilchinesischen Diaspora, die für die wirtschaftliche Öffnung gebraucht wurde. So konnten sich die Intellektuellen vorsichtig aus ihrer Ecke herausbewegen und eine Rolle spielen, die sie schon im Kaiserreich innehatten: als Berater der Politik. In den 1990er Jahren wurde daraus teilweise eine Lobbyisten-Rolle. 

Ist das heute noch immer so?

Xi Jinping hat 2016 den Sozial- und Geisteswissenschaftlern öffentlich die Leviten gelesen. Er sagte: Es ist die Zeit des nationalen Wiedererstarkens, doch unsere theoretische soft power ist gering. Ihr leistet nicht genug. Ihm geht es dabei weniger um abstrakte Wahrheit, sondern Wirkung und Einfluss. Xi will Diskursmacht gewinnen, um auf der Theorieebene ähnlich mächtig zu werden, wie es die Volksrepublik ökonomisch und politisch bereits ist. Dass Intellektuelle nur als Dienstleister der nationalen Stärke gesehen werden, kollidiert mit dem klassischen Gelehrtenideal, dass man dem Kaiser ungeschminkt die Wahrheit ins Gesicht sagen soll. Manche machen es trotzdem, wie der Rechtswissenschaftler Xu Zhangrun, der Xis Zensur scharf kritisierte. Sie tragen dann aber die Konsequenzen und verlieren ihren Job.

Es gibt also Konjunkturen der Öffnung und Schließung des Diskurses. Und gerade erleben wir eine Schließung.

Ja, die letzten zehn Jahre war eine Phase des Schließens. Derzeit findet allerdings wieder eine kleinere Charme-Offensive statt. Reisen, Konferenzen und Treffen mit chinesischen Kollegen sind begrenzt möglich, allerdings stehen beide Seiten stets unter Spionageverdacht. In den 2000er Jahren waren Diskurs und Austausch sehr viel freier. 

Ist das eine Trendwende, steht jetzt eine neue Phase der Öffnung an?

Dieser Mini-Öffnung zum Trotz erwarte ich unter Xi Jinping keine grundlegende Änderung. Das kann noch zehn, fünfzehn Jahre so weitergehen. 

Dennoch klingen die Themen, die in China diskutiert werden, sehr anschlussfähig für westliches Denken. Die Anthologie zum chinesischen Denken der Gegenwart, die Sie mitherausgegeben haben, enthält Beiträge zu Populismus, Feminismus oder Entfremdung. Warum wird das hier kaum rezipiert?

In deutschen Debatten dient China oft nur als Chiffre, um spezifische Thesen zu bestätigen. Wenn man eine pointierte Meinung findet, sagen wir das Tianxia-Theorem des Philosophen Zhao Tingyang, warum sich dann mit dem dissonanten Rest beschäftigen? Die geopolitische Großwetterlage beeinflusst maßgeblich, welche Stimmen selektiert werden. Außerdem bekommt, wer sich nur die Parteimedien anschaut, tatsächlich den immer gleichen Parteidiskurs geboten. Diese Oberfläche – der Historiker Jin Guantao hat sie eine „ultrastabile Struktur“ genannt – dient dazu, kritisches Denken möglichst abzustellen und einen sozialen Kitt zu liefern. Wer darunter schaut, findet aber selbst heute, unter Xi Jinpings Regentschaft, kontroverse Diskussionen. Diese einem breiten Publikum im Westen zugänglich zu machen, ist eine Aufgabe der Sinologie. 

Was kann der Westen lernen, wenn er die Blackbox China öffnet? Gibt es hier auch einige Denkimporte, die Sie sich wünschen, so wie in China Carl Schmitt und Leo Strauss gelesen werden?

Zunächst wünsche ich mir, dass man die Meinungspluralität wahrnimmt und zumindest eine grobe Vorstellung der Bruchlinien im chinesischen Diskurs erhält. Was man davon importieren möchte, ist noch einmal eine andere Frage. In China wird um einen eigenständigen Entwicklungspfad gerungen, der den Westen nicht kopiert. Dies nachzuvollziehen, ist eminent wichtig. Man stößt dabei auf Denker, die man dringend kritisch rezipieren sollte, etwa den Juristen Jiang Shigong. Aber es gibt auch Ideen, die eben nicht das ganz Andere repräsentieren, sondern anschlussfähig sind an die Debatten, die wir hier führen. Es gibt bei uns seit Jahrhunderten die Vorstellung von einem „chinesischen Schlüssel“ – man brauche nur einen Ansatz, die Dialektik zum Beispiel, um zu wissen, wie in China gedacht wird. Aber so einfach ist es nicht. Es ist viel Arbeit, man muss viel lesen und die Debatten verfolgen. Eine Abkürzung gibt es nicht. •

 

Daniel Leese ist Professor für Sinologie mit dem Schwerpunkt „Geschichte und Politik des Modernen China“ in Freiburg. Von ihm ist zuletzt erschienen: „Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft“, München: C.H. Beck 2023, hg. zus. mit Shi Ming, sowie "Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit", München: C.H. Beck 2020.

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Kommentare

Armin Schmidt | Sonntag, 15. Oktober 2023 - 22:03

Danke für den Artikel.

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