Von Marcuse lernen
Schließen sich Verzicht und Lustgewinn gegenseitig aus? Keineswegs, argumentierte Herbert Marcuse. Unter den richtigen Vorzeichen gehen sie sogar miteinander einher.
Das neue Jahr gibt Anlass, Konsumgewohnheiten zu überdenken. Überquellende Keller und Kleiderschränke legen die Vermutung nah, dass im Kapitalismus die wahre Kunst nicht im Anschaffen, sondern im Widerstehen von Kaufreizen liegen könnte. Doch bringt unsere Zeit auch überindividuelle Gründe mit sich, eigene Bedürfnisse zu hinterfragen. Insbesondere angesichts des Klimawandels und seiner für die Menschheit schwerwiegenden Folgen ist klar: So, wie wir leben, kann es nicht weitergehen. Wir müssen etwas ändern. Doch wie? Neben der Politik sehen viele die Verantwortung in den Lebensgewohnheiten der einzelnen Person. Wir müssen lernen zu verzichten. Wie schwer das jedoch ist, haben weite Teile der Gesellschaft im vergangenen Jahr erfahren müssen. Von der Inflation gezwungen, musste man sich zweimal überlegen, welchen Euro man ausgibt. Verzicht bedeutet, sich die grundlegende Frage zu stellen: Was brauche ich wirklich?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Herbert Marcuse (1898–1979)
Unbeugsamer kritischer Denker, Idol der Studierendenproteste von 1968: Herbert Marcuse schaffte es wie kein anderer seiner Kollegen, sein kritisches Denken mit politischem Aktivismus in Einklang zu bringen. Seine Werke faszinieren durch ihren utopischen Gehalt und durch ihr Drängen auf die Befreiung der Gesellschaft von den Zwängen des Kapitalismus

Revolutionär aus Verzweiflung
Herbert Marcuse, der heute vor 125 Jahren in Berlin geboren wurde, hoffte auf eine politische Bewegung der Außenseiter. Dies macht ihn zum Vordenker heutiger Kritischer Theorie.

Viruslust
Sich strikt an die gültigen Coronaregeln zu halten, diese gar überzuerfüllen, gilt als vernünftig im besten kantischen Sinn: Die Lust wird zugunsten der Pflicht unterdrückt. Doch könnte es sein, dass die Restriktionen des sozialen Lebens durchaus selbst einen Lustgewinn bergen?

Albert Camus – Wahrheit statt Hoffnung
Albert Camus warnte davor, sich angesichts einer politisch sowie existenziell düsteren Gegenwart auf das Hoffen zu besinnen. Wahrer Fortschritt, so argumentierte er, finde sich nur abseits der Hoffnung. Die bisher in Deutschland unveröffentlichten Jugendschriften bieten nun neue Einblicke in das Denken des französisch-algerischen Philosophen.

„Wir haben die Pflicht, Sinn zu stiften“
Reinhold Messner ist einer der letzten großen Abenteurer der Gegenwart. Mit seiner Ehefrau Diane hat er ein Buch über die sinngebende Funktion des Verzichts geschrieben. Ein Gespräch über gelingendes Leben und die Frage, weshalb die menschliche Natur ohne Wildnis undenkbar ist.

Ethik der Sanktionen
Die Sanktionen gegen Russland bergen ein moralisches Dilemma. Sie sollen helfen, Gewalt zu unterbinden – doch gehen sie selbst mit einem hohen Schaden für unschuldige Menschen einher. Ein moralphilosophischer Klärungsversuch von Felicitas Holzer.

Die Sache mit dem Surfen
Wellenreiter sind Engel der Geschichte, nur unter umgekehrtem Vorzeichen: Von Surfern lernen heißt, mit der Zukunft zu tanzen, meint Wolfram Eilenberger.

Aufstand der Armen
Der Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Grundnahrungsmittel weltweit in die Höhe. Die daraus entstehende Notlage vieler Menschen sah Hannah Arendt noch als Hürde für gelingende Revolutionen an. Doch die Vorzeichen haben sich geändert.

Kommentare
Nahezu jede Verzichtsdiskussion leidet darunter, dass mit Verzicht nur Konsumverzicht gemeint wird. Tragisch daran ist, dass selbst Kritik am Konsum wie Werbung dafür wirkt, weil sich die Leute bei Forderungen nach Verzicht umso mehr daran klammern. Zugleich wird suggeriert, dass es beim Verzicht nur um Ja oder Nein geht.
Tatsächlich ist aber jeder Nichtverzicht auch immer ein Verzicht auf etwas anderes. Es ist unmöglich, auf alles nicht zu verzichten. Wer nicht auf Alkohol verzichtet, verzichtet auf Nüchternheit. Wer sich immer nur bedienen lässt, verzichtet auf die Entwicklung eigener Fähigkeiten. Aus der Gesamtsicht: Wenn die Menschheit zu einem Großteil nicht auf ein Leben in Saus und Braus verzichten will oder kann, wird sie auf eine gesunde Umwelt und ein lebensfreundliches Klima verzichten müssen.
Im Gegensatz zum Konsumbereich gibt es in der Arbeitswelt vielerlei Verzicht, der kaum als solcher wahrgenommen wird. Verzicht auf morgendliches Ausgeschlafensein und auf Selbstbestimmung vielerlei Art scheint selbstverständlich zu sein, obwohl es genauso Bedürfnisse sind. Es spricht einiges dafür, dass Konsumbedürfnisse eine Kompensation von solchen unerfüllten Bedürfnissen ist.
Genuss und Lustgewinn müssen nicht im Konsumbereich bleiben, mit einem Wechsel von Verzicht und Nichtverzicht wären sie auch woanders zu entdecken.