Natan Sznaider: „Frieden in einem messianischen Sinne wird es im Nahen Osten nicht geben“
Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist der Frieden in Israel, Palästina und dem Nahen Osten in weite Ferne gerückt. Hat er dennoch eine Chance? Zur Eröffnung der phil.COLOGNE diskutierten Navid Kermani und Natan Sznaider, moderiert von Wolfram Eilenberger.
Eilenberger: Herr Sznaider, eine Friedensinitiative mit einem Drei-Punkte-Plan hat am 11. Juni den UN-Sicherheitsrat ohne Gegenstimme passiert. Sowohl die Hamas als auch die israelische Regierung haben diesem sogenannten Biden-Plan zunächst zugestimmt. Er sieht vor, dass die Kampfhandlungen unmittelbar eingestellt, Geiseln ausgetauscht werden und man gemeinsam eine Lösung für einen Frieden sucht. Besteht noch Aussicht auf einen Erfolg dieses Plans?
Sznaider: Es kann sein, dass dieser Biden-Plan angenommen wird. Es kann aber auch sein, dass er es nicht wird. Eins ist sicher: Es wird bestimmt nicht von Navid und mir abhängen, obwohl wir diesen Plan schon vor einigen Wochen in einem Zeitungsartikel sozusagen dargelegt haben. Wir können uns kluge Gedanken darüber machen, wie Konflikte gelöst werden können, doch im Endeffekt sind wir machtlos gegenüber der politischen Macht.
Eilenberger: Herr Kermani, Sie haben mit Herrn Sznaider gemeinsam einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, in dem Sie erste Auswege aus dieser Situation skizzierten. Tatsächlich sind all die Auswege, die sie damals explizit gemacht haben, Teil des Biden-Plans. Spricht diese Kohärenz dafür, dass die Lösung vielleicht gar nicht so kompliziert ist?
Kermani: Neu an der Initiative ist, dass die Vereinigten Staaten endlich aktiv geworden sind. Das haben viele früher erhofft, auch in den USA selbst. Viele haben betont, dass die USA die einzige Macht sei, die in irgendeiner Weise überhaupt noch in der Lage wäre, auf die Konfliktparteien einzuwirken. Ich habe in den letzten Monaten viele kontroverse Gespräche u. a. in Süd- und Ostafrika geführt. Wenn man fragt, woran liegt es, wer hat Schuld, was sind die Ursachen, dann herrscht überall große Uneinigkeit. Auch wenn Sie fragen, wie die Parteien langfristig zusammenleben können, überwiegt entweder Ratlosigkeit oder man ist sich bei den Lösungen, die uns einfallen, nicht einig. Aber wenn man fragt, was in den nächsten zwei Wochen geschehen soll, stimmen überraschend viele Menschen überein: Geiselbefreiung und Waffenstillstand. Allenfalls kann man hoffen, dass aus diesem Momentum – Geiselbefreiung und Waffenruhe – etwas entsteht, auf das wir noch gar nicht kommen.
Eilenberger: Es gibt in diesem Artikel, den sie geschrieben haben, einen Satz, der lautet: „Es muss doch etwas Besseres geben, als sich gegenseitig umzubringen.“ Das sei der kleinste gemeinsame Nenner. Aber hat man nicht das Gefühl, dass der Frieden weder von der einen noch von der anderen Seite wirklich gewünscht wird?
Sznaider: Das ist komplizierter. Frieden in einem messianischen Sinne wird es im Nahen Osten nicht geben. Man glaubt, besonders in Europa, dass es im Nahen Osten einen Frieden wie zwischen den ehemaligen Feinden Frankreich und Deutschland geben kann, dass Menschen sich gegenseitig vertrauen, Handelsbeziehungen und Tourismus entstehen. So ein Frieden wird im Nahen Osten nie möglich sein. Ich glaube an einen Frieden in dem Sinne, dass zum Beispiel – und das ist ja auch Teil des Biden-Planes – Israel ein Bündnis mit Saudi-Arabien eingeht und die Beziehungen mit Jordanien und Ägypten weiter ausgebaut werden. Aber solche Bündnisse bauen auf einem gemeinsamen Feind auf und das ist der Iran und dessen Helfershelfer. Friede ist in diesem Sinne kein Ende aller Feindseligkeit, sondern eine gewaltlose Fortsetzung des Krieges mit klaren Feinden.
Eilenberger: Herr Kermani, jetzt könnte man sagen, solange der Frieden nur dann besteht, wenn der Feind klar benannt ist, ist das kein Friede, sondern die Stabilisierung einer Bedrohungslage.
Kermani: Da würde ich sofort zustimmen. Im Augenblick hat der Krieg in Gaza und das Massaker der Hamas alle Friedensbemühungen um Jahrzehnte zurückgeworfen. Der einzige Frieden, der jetzt möglich ist, ist ein Frieden aus Erschöpfung. Vielleicht setzt auf beiden Seiten ein Erkenntnisprozess ein, nicht aus plötzlicher Zuneigung, sondern aus eigenem Interesse. Anders als Natan glaube ich, dass ein wirklicher Frieden denkbar ist. Als ich 2002 zum ersten Mal nach Israel gereist bin, war das Oslo-Abkommen gerade gescheitert. Die Friedenshoffnung war aber noch da. Laut Umfragen stimmte damals eine Mehrheit sowohl der Israelis als auch der Palästinenser für eine Zwei-Staaten-Lösung. Und jetzt stellen Sie sich vor, der Iran demokratisiert sich und ein Abkommen zwischen Israel und den arabischen Golfstaaten wird geschlossen. Warum soll dann ein Frieden nicht wieder möglich sein? Ein Punkt ist mir noch wichtig: Im Zusammenhang mit dem 7. Oktober wurde oft die Frage aufgeworfen, ob man das Ereignis kontextualisieren dürfe oder nicht. Natürlich geschieht nichts in der Welt ohne Kontext. Aber mir schien in der Debatte ein Hinweis zu fehlen, nämlich hinsichtlich der Entwicklung des Nahen Ostens in den vergangenen 30 Jahren. Wir sprechen über eine Region, in der Staaten zerfallen und ganze Landstriche bedroht und überfallen werden. Israel ist Teil dieser Region und wird natürlich in dessen Gesamtentwicklung hineingezogen. Die Radikalisierung Israels, wo jetzt eine in Teilen rechtsextreme Regierung herrscht, die noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen wäre, muss man im Kontext der Radikalisierung des gesamten Nahen Ostens sehen. Es ist wesentlich für die längerfristige Befriedung, Israel als das zu sehen, was es ist, ein nahöstliches Land.
Eilenberger: Die Frage nach dem Kontext haben Sie bereits in Ihrem gemeinsamen Briefwechsel aus dem Jahre 2002 diskutiert. Aus heutiger Sicht scheinen die Briefe von einer prophetischen Verzweiflung geprägt. Es kehren immer wieder die gleichen Formulierungen wieder: „Es wird nur noch schlimmer“, „wie soll das noch ausgehen?“, „es gibt hier keine Lösung“. Unmittelbar nach dem 7. Oktober haben viele beschworen, dass es diesmal anders ist als jemals zuvor. Kamen die Ereignisse für Sie so überraschend, wie für die meisten?
Sznaider: Es kam auf jeden Fall überraschend. Und die Ereignisse kann man nicht in die vorherige Reihe der Anschläge einordnen. Bei den Anschlägen erinnern wir uns an die Orte, wo sie stattgefunden haben, nicht an die Zeit. Der 7. Oktober ist eine zeitliche Zäsur. Das hätte nicht geschehen dürfen. Das sage ich als israelischer Staatsbürger, der davon ausgeht, dass der israelische Staat alles Notwendige tut, auch Dinge, die einem als liberalen Menschen nicht unbedingt gefallen, um die Bürger des Landes zu schützen. Das ist das oberste Credo des Vertrages, den der israelische Staat mit seinen Bürgern und Bürgerinnen geschlossen hat. Was am 7. Oktober passiert ist, war ein kolossales Versagen des israelischen Militärs und Geheimdienstes. Die Bürger und Bürgerinnen im Westen Israels waren vollkommen auf sich allein gestellt und der Grausamkeit der Angreifer ausgesetzt.
Eilenberger: Und doch, Herr Kermani, haben Sie in ihrer vorigen Antwort gesagt: Es sei eine Illusion zu glauben, dass nach der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre kein Frieden mehr möglich sei. Wie könnte eine Versöhnung aussehen?
Kermani: Die Frage führt mich zurück zu der historischen Rolle des jüdischen Volkes im Nahen Osten. In der formativen Phase des Islams waren Juden ein wesentlicher Teil der arabischen Kultur. Jüdisch-arabische Dichter gehörten zu den bekanntesten ihrer Zeit. Die großen Philosophen des Judentums waren zu einem großen Teil arabischsprachig. Diese gemeinsame jüdisch-arabische Vergangenheit wird von beiden Seiten seit 50 Jahren systematisch negiert. Die Araber wollen nichts mehr von ihrer eigenen jüdischen Vergangenheit wissen und in Israel wird sehr viel dafür getan, die eigene historische Verflochtenheit mit der arabischen Welt auszublenden. Als Wissenschaftler können wir dazu beitragen, zu zeigen, dass der gegenwärtige Zustand der Feindschaft nicht notwendig ist.
Sznaider: Ich will nicht den Spielverderber spielen. Aber ich glaube nicht, dass die Anerkennung einer gemeinsamen Geschichte und des gegenseitig zugefügten Leids uns auch nur einen Millimeter weiterbringt. Das sind Formeln, die sich in einem befriedeten Europa gut anhören. Im Moment machen sie aber überhaupt keinen Sinn. Es geht hier nicht um die Anerkennung des Leids, das man sich zufügt, sondern um Verantwortung. Ich bin Staatsbürger Israels und deswegen trage ich die Verantwortung für die Dinge, die in meinem Namen geschehen, genauso wie auch die Menschen im Gaza Verantwortung dafür tragen, was die Hamas, die sie gewählt haben, in ihrem Namen tut.
Eilenberger: Das scheint mir ein philosophisch ungemein interessanter Gedanke.
Sznaider: Das ist politisch, nicht philosophisch. Ich möchte weg von der Philosophie.
Eilenberger: Wenn man diesen Gedanken konsequent weiterdenkt, kommt die Frage der Schuld auf. Wollen Sie wirklich sagen, dass Sie dafür verantwortlich sind, was das israelische Militär derzeit im Gazastreifen tut?
Sznaider: Überhaupt keine Frage. Und wenn Netanjahu und die israelische Führung angeklagt werden, werde ich mit angeklagt. Da kann ich mich nicht rausreden. Ich bin Staatsbürger, ich lebe dort und will dort auch weiterleben. Ich habe dieses Land und damit auch die Verantwortung bewusst gewählt. Das ist der große Unterschied zwischen uns Israelis und den Juden in der Diaspora, die seit dem 7. Oktober zwar unter antisemitischen Anfeindungen leben müssen, die aber nicht die Verantwortung für die israelische Luftwaffe im Gazastreifen tragen. Die Juden und Jüdinnen hier haben die Wahl, ob sie sich gegen den Antisemitismus wehren oder ob sie nach Israel auswandern. Diese Unterscheidung wollte die Hamas am 7. Oktober zerstören. Und die Hamas hat die extreme Reaktion der israelischen Armee eingeplant. Von israelischer Seite diente diese Reaktion dazu, die Souveränität, die am 7. Oktober ausgesetzt war, wiederherzustellen. Ohne diese Souveränität können wir im Nahen Osten nicht leben. Die Erinnerung daran, dass es mal ein gemeinsames multikulturelles Leben im Nahen Osten gab, bringt uns auf keine Art und Weise weiter.
Kermani: Als Wissenschafler oder Schriftsteller ist es weder meine Aufgabe noch mein Anspruch, daß meine Arbeit einen realpolitischen Nutzen hat. Wenn ich davon erzähle, wie das Judentum noch bis weit ins 20. Jahrhundert ein integraler, in den Städten wie Bagdad führender Bestandteil der arabischen Kultur und sogar des arabischen Nationalismus war, muss daraus keine Friedenslösung erwachsen. Aber ganz überflüssig erscheint mir der Hinweis keineswegs, wenn wir dieser Tage von beiden Seiten die Propaganda hören, Juden und Araber könnten prinzipiell nicht zusammenleben.
Eilenberger: Aber Herr Kermani, ist das nicht so, wie wenn beispielsweise in Europa bei der Thematisierung der Muslimfeindlichkeit auf Al-Andalus verwiesen wird und gesagt wird, dass dort von 700 bis 1200 die Blüte der europäischen Kultur war? Für die derzeitige Konstellation in Frankreich oder Deutschland ist das in keiner Form hilfreich.
Kermani: Es ist total hilfreich, auch weil das in unserem Fall sehr viel konkreter ist. In den letzten Jahrzehnten ist der Einfluss der arabischen Kultur in Israel wieder stark gewachsen und damit auch das Interesse für die gemeinsame Vergangenheit. Es ist eben nicht 700 Jahre, sondern 70 Jahre her. Aber noch einmal zurück zu der Frage der Verantwortung: Das trifft aus meiner Sicht auf Natan deswegen zu, weil er von Anfang an den Krieg befürwortet hat. In diesem Punkt waren wir uns sehr uneinig. Nach dem 7. Oktober gab es einen Moment der Innigkeit. Wir haben gemeinsam getrauert und uns über die 2000 Kilometer hinweg umarmt. Doch mit dem Beginn des israelischen Angriffs auf Gaza ging die Beziehung verblüffend schnell auseinander, als ich die Klugheit des Vorgehens – nicht das Selbstverteidigungsrecht – in Frage gestellt habe. Ich war schockiert von Natans Empathielosigkeit gegenüber dem, was der Bevölkerung in Gaza widerfährt. Natan wiederum fühlte sich zunehmend mit dem Leid und dem Schock des 7. Oktobers alleingelassen. Während für ihn jeder Tag der 7. Oktober blieb, bedeutete für mich, spätestens mit dem Kriegsbeginn in Gaza, jeder Tag neues Leid. Wir haben uns sehr entfernt – auch emotional. Zum Jahreswechsel mit der Anklage durch den internationalen Strafgerichtshof gegen Israel haben wir uns wieder angenähert. Sowohl die Anklage als auch die Verteidigung, die beide sehr gut formuliert waren, haben uns die Perspektive der anderen Seite wieder geöffnet. Ohne dass wir uns einig waren, ob der Krieg richtig oder falsch war, merkten wir, dass jetzt der Moment für Realpolitik gekommen war. Man musste sich überlegen, wie man aus der für beide Seiten schlechten Situation wieder herauskommt.
Eilenberger: Herr Sznaider, in Interviews haben Sie auf die Frage nach einer Empathie für die in Gaza sterbenden Kinder sehr offen gesagt, dass man das in diesem Moment nicht von Ihnen erwarten könne. Sie klagten an, dass es leicht sei, mit einem Universalismus zu kommen, wenn man nicht jeden Tag um sein Leben fürchten muss. Gibt es nicht auch einen guten philosophischen Grund, diesen Universalismus hochzuhalten, gerade auch im Sinne der israelischen Bevölkerung?
Sznaider: Die Forderung nach Empathie für die andere Seite im Krieg ist für mich absurd. Das ist nicht schön und es wird hier sicher etwas ganz anderes von mir erwartet. Aber es ist nahezu unmöglich, wenn man im Krieg ist und Söhne, Enkel und Bekannte kämpfen, Empathie für die andere Seite aufzubringen. Aber noch einmal zu den Gemeinsamkeiten zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung in Israel: Das wirklich beängstigende ist die steigernde Extremität des israelischen Staates. Du hast Recht: Die Bevölkerungen nähern sich von Jahr zu Jahr mehr an. Die arabische Bevölkerung wird jüdisch und die jüdische Bevölkerung arabisch. In den letzten 50 Jahren ist Israel viel orientalischer geworden und hat sich von Europa entfernt. Es gibt zum Beispiel eine wachsende Zahl an muslimisch-arabischen Frauen in Israel, die Medizin oder Lehramt studieren wollen und die sich aus den traditionellen Frauenrollen befreien. Für die Hamas ist das das Allerschlimmste. Unabhängig vom Krieg haben wir in Israel die absurde Situation eines Staates, der immer restriktiver, und einer Gesellschaft, die immer offener wird.
Kermani: Natan und ich haben ungleiche Sprecherrollen. Er ist unmittelbar betroffen, ich nicht. Ich bin kein Palästinenser, kenne aber viele und ich weiß, wie fürchterlich die Situation seit sieben Monaten für sie ist. Keiner von meinen palästinensischen Freunden hat auch nur den Funken Sympathie für die Hamas. Und niemand von ihnen würde das Massaker als Widerstandsbewegung verklären. Sie standen immer schon in Opposition zur Hamas. Und doch wissen sie seit sieben Monaten gar nicht mehr, wie sie morgens aufstehen können. Wir hier in Deutschland erfahren über die öffentlichen Medien relativ wenig über das Leid der Palästinenser, vor allem sehen wir im Vergleich relativ wenige drastische Bilder. Und mit Vergleich meine ich gar nicht mal al-Dschazira. Schaut man BBC, NBC oder France1 bekommt man durch die täglichen Bilder ein sehr anderes, geradezu unerträgliches Gefühl für die Situation dort. Ich glaube, das spielt auch in die amerikanische Haltung hinein, die ja gegenüber der israelischen Regierung zumindest öffentlich immer distanzierter wird. Deshalb denke ich, ganz abgesehen von der Frage nach der persönlichen Empathie, dass sich Israel durch diese Härte selbst schwächt. Israel war noch nie so isoliert wie in diesen Tagen. Letztlich läuft alles eins zu eins nach dem Plan der Hamas: Sie wollte Israel zu einer harten Reaktion bringen, um eine weltweite Solidarität mit Palästina zu entfachen. Israel steht, selbst in Europa, kurz vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Staaten, zu denen es zuvor ein gutes Verhältnis hatte.
Eilenberger: Wie schätzen Sie die Reaktion der Bundesregierung ein?
Kermani: Die Bundesrepublik Deutschland hat ein besonderes Verhältnis zu Israel. Aus guten Gründen ist die Berichterstattung deswegen ein bisschen vorsichtiger als anderswo. Doch die bestehende Regierung, die so sehr die israelische Sicherheit als Staatsräson hochhält und Waffen für den Krieg in Gaza liefert, ist zugleich eine, die sich wie kaum eine andere im Westen zurückhält mit Kritik an der Islamischen Republik Iran, den Feind Nummer eins Israels und offenbar Hauptsponsor der Hamas. Die Bundesregierung hat sich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nur äußerst zögerlich mit den Protesten der Frauen im Iran solidarisiert, und Deutschland ist es, daß innerhalb der EU maßgeblich dazu beigetragen hat, daß die Revolutionsgarden nicht auf die Terrorliste der Europäischen Union gesetzt wurden. Dieser Widerspruch betrifft mich als sowohl deutscher als auch iranischer Staatsbürger sehr. Wie alle meine iranischen Landsleute verstehe ich das Handeln der rot-grün-gelben Bundesregierung nicht. Wenn wir eine Aufgabe in Deutschland haben, ist es nicht, mit dem Zeigefinger auf Israelis, die Araber oder die Palästinenser zu zeigen, sondern uns an den eigenen Ansprüchen zu messen und diesen Widerspruch zu hinterfragen.
Eilenberger: Ist es wirklich richtig, wenn sie sagen, Deutschland soll sich besser zurückhalten oder ist es nicht seine historische Pflicht, sich für Israel einzusetzen?
Kermani: Natürlich sollte Deutschland sich engagieren, sowohl finanziell als auch, indem es Empathie zeigt. Es muss auch einen zurückhaltenderen Ton anschlagen als etwa Belgien oder Frankreich, wenn es die Regierung Netanjahu kritisiert. Aber vor allem sollte Deutschland seine Außenpolitik überdenken, die Israel und letztlich auch der iranischen Bevölkerung schadet. Ansonsten kann Deutschland gar nicht viel machen, selbst wenn es wollte. Deutschland kann sich nur im Verbund mit Europa wirklich engagieren. Aber seit 20 Jahren hält sich Europa raus und verliert durch den zunehmenden Nationalismus immer mehr an Handlungsmacht. Derzeit sehe ich in den USA die einzige Hoffnung. Blinken ist der einzige, der im Augenblick versucht, ernsthaft das Problem zu lösen und die verschiedenen Akteure zusammenzubringen. Doch die Uhr tickt. Im November könnte alles anders aussehen. Mit einem Regierungswechsel würden die Karten völlig neu gemischt. Bis dahin muss eine Lösung sichtbar werden.
Eilenberger: Herr Sznaider, ein Unglück der Situation besteht darin, dass Israel aus einer Staatskrise in diese Situation geraten ist und dass ein Premier an der Macht ist, den nur noch der Krieg selbst rettet. Gäbe es derzeit eine politische Mehrheit für eine Zweistaatenlösung in Israel?
Sznaider: Nein. Der 7. Oktober steht wie eine Brandmauer dagegen. In einem Parlament, das jetzt gewählt werden würde, wären von 120 Abgeordneten vielleicht 20 für eine Zweistaatenlösung. Aber das heißt nicht, dass es nicht eine Mehrheit geben würde, die mit dem Beginn der Verhandlungen über eine eventuelle Zweistaatenlösung beginnen würde. Jeder Israeli hat seinen eigenen Vorschlag. Sie pendeln zwischen einer föderativen und einer Ein-, Zwei oder gar Dreistaatenlösung. Die Zweistaatenlösung ist eine Ikone geworden, weil man sich eigentlich nichts anderes mehr vorstellen kann. Aber wir sollten uns nicht einbilden, dass das die Lösung aller Probleme wäre. Das würde weder die Vernichtungsphantasien auf der einen noch auf der anderen Seite zum Verschwinden bringen. Aber es ist eine Option, die offen gehalten werden muss, weil etwas anderes letztlich nur den Abgrund bedeuten würde. •
Natan Sznaider ist Professor Emeritus für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv, Navid Kermani Schriftsteller und Orientalist und lebt in Köln. Ihr gemeinsamer Briefwechsel Israel. Eine Korrespondenz ist 2023 bei Hanser erschienen.
Dieses Gespräch fand auf der phil.COLOGNE 2024 statt.
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Kommentare
Zweiparteienwahlrecht mit zwei guten Parteikonzepten könnte vielleicht viel leisten.
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