Hegel
Sonderausgabe 24 - Frühling 2023Hegel war überzeugt, dass die Freiheit des Einzelnen sich niemals losgelöst oder gar in Konkurrenz zur Gesellschaft verstehen lässt. Wirklich frei, so versuchte er zu zeigen, werden wir erst mit und durch die anderen. „Bei-sich-selbst-Sein im Anderen“ lautete in seinen Worten das ambitionierte Ansinnen seiner Philosophie.
Folgt man ihm in diesem Gedanken, dann eröffnen sich neue Perspektiven auf heutige Probleme, für die eine Politik, die vom Einzelnen ausgeht, keine Antwort zu bieten scheint. Anstatt eine starke Klimapolitik, Umverteilung oder Coronamaßnahmen primär als Bedrohung der individuellen Freiheit zu sehen, könnte man – ausgehend von der Annahme, dass Freiheit unweigerlich sozial ist – fragen: Welche Institutionen bräuchte es, um Selbstbestimmung und Entfaltung auch in Zukunft zu garantieren? Welche sozialen Beziehungen würden es uns ermöglichen, bei uns selbst zu sein?
Ebenso wie wir lebte Hegel in Zeiten großer Umbrüche. Als Jugendlicher verfolgte er begeistert die Französische Revolution. Die Philosophie seiner Tage war ebenfalls im Wandel begriffen, die Religion hatte ihre unhinterfragte Vormachtstellung verloren, das Verhältnis von Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft wollte neu gedacht werden. Kein Wunder also, dass sein Anspruch an die Philosophie war, „ihre Zeit in Gedanken“ zu fassen. Anders als oft angenommen, liefert Hegel dabei keine Prognosen, die uns erlauben zu sagen, wie wir von der Gegenwart in die Zukunft schreiten. Aber seine Hinwendung zu Momenten der Krise als Chance – um Neues zu schaffen und Ideale voranzutreiben – könnte heute, da die Zukunft zunehmend düster erscheint, als Inspiration dienen.
Hegel liefert keine leichten Antworten. Anstatt eines Entweder-oder ging es dem Philosophen der Dialektik darum, Widersprüche zusammenzudenken und aufzuheben – freilich ohne jemals alle Spannung einzuebnen. Das Denken bleibt also immer in Bewegung. Gerade in dieser Komplexität und Dynamik liegt der Reiz seiner Philosophie.
Mit Beiträgen von Robert Menasse, Judith Butler, Karl Lauterbach, Thea Dorn, Axel Honneth, Christoph Menke, Slavoj Žižek, u. v. m.
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1. Bewusstsein und Geist
Bild: © Julia Sellmann
Wie werde ich zu einem Ich? Gewöhnlich begreifen wir uns und unsere Umwelt, das eigene Bewusstsein und das eines anderen als voneinander getrennt. Hegel hingegen meint: Nur im Kontakt mit anderen Objekten und Subjekten erlangen wir Wissen über uns selbst. In seinem ersten großen Werk, der „Phänomenologie des Geistes“, zeichnet er die Entwicklung des Bewusstseins nach, die im „absoluten Geist“ gipfelt.
2. Denken und Sein
Bild: © Julia Sellmann
Wie erkenne ich das Wahre? Anders als Kant glaubt Hegel nicht, dass uns die Welt an sich verborgen bleiben muss. Das Wahre bleibt nicht im Jenseits des Erkennbaren oder im bloßen Denken angesiedelt. Es äußert sich! Wissen und Wirklichkeit, Denken und Sein sind so miteinander verwoben. Widersprüche, so zeigt Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“, halten das Denken dabei in Bewegung und treiben es über sich hinaus.
3. Recht und Freiheit
Bild: © Thomas Albdorf
Was heißt es, frei zu sein? Hegels Antwort mag verblüffen. Wahre Freiheit gibt es für ihn nur in der Gesellschaft, niemals außerhalb von ihr. Kritiker sehen in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ den Entwurf eines totalitären Gebildes. Hegel hingegen versteht unsere modernen Institutionen – die Familie, den Markt, den Staat – als Wegbereiter einer umfassenden Sittlichkeit, welche die Freiheit des Einzelnen und des Ganzen vereint.
4. Geschichte, Ästhetik, Religion
Bild: © Maximilian Virgil
Wie tritt „der Geist“ in Erscheinung? Für Hegel lässt sich die fortschreitende Selbsterkenntnis des Menschen eindeutig erfassen: Sie zeigt sich in der Entfaltung der Freiheit in der Geschichte und in unserer Selbstdeutung in Kunst, Religion und Wissenschaft. Fortschritt ist aber mitnichten linear, sondern birgt unerwartete Brüche und Wendungen.
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Alle Texte in der Übersicht
Intro
Warum Hegel lesen?
Seine Werke gelten als äußerst schwer verständlich und dennoch wird Hegel weiter gelesen. Prominente Personen aus Politik, Literatur und Gesellschaft erzählen, warum sich die Auseinandersetzung mit diesem Philosophen auch heute lohnt.

Das Versprechen der Vernunft
Welcher Mensch steht hinter Hegels abstrakter Systemphilosophie? Welche Erlebnisse und Begegnungen prägten sein Denken? Und wie sahen ihn seine Zeitgenossen? Ein Essay von Sebastian Ostritsch über einen so absonderlichen wie wagemutigen Philosophen.

Die Philosophen-WG
Während in Frankreich die Revolution wütet, lebt Hegel als Student drei Jahre lang mit Hölderlin und Schelling auf einem Zimmer. Ihre gemeinsame Zeit im Tübinger Stift ist ebenso ungewöhnlich wie folgenreich.

Quellen der Inspiration
Kein philosophisches System kommt aus dem Nichts, auch Hegel greift die Ideen seiner Vorgänger auf. Doch worauf reagiert er konkret? Welche Ansätze sind für sein Werk wichtig?

Bewusstsein und Geist
Axel Honneth: „Was das Bewusstsein antreibt, ist die Erfahrung des Scheiterns“
In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die Bildung des Bewusstseins und setzt sich dabei mit der Geistesgeschichte von der Antike bis in die Moderne auseinander. Axel Honneth erklärt, worin der Reiz dieses historischen Erinnerungsprozesses liegt und warum man das Buch dennoch mit einer „Prise Nüchternheit“ lesen sollte.

Hegel im Überblick
Trotz aller Systematik fällt es oft schwer, den Überblick über Hegels Philosophie zu behalten. Ein Glück, dass Millay Hyatt, die selbst zu Hegel promovierte, drei seiner großen Werke im Überblick darstellt. Das scheinbar Unmögliche wird so möglich: die Wissenschaft der Logik, die Phänomenologie des Geistes und die Grundlinien der Philosophie des Rechts in ihren Grundzügen auf einer Seite zu erschließen.

Herr und Knecht
Nur knapp zehn Seiten umfasst Hegels „Dialektik von Herr und Knecht“ – und ist dabei so wirkmächtig wie kaum ein anderer Text der Philosophiegeschichte. Lea Wintterlin stellt Ihnen vier bedeutende Interpretationen vor.

Susan Buck-Morss: „In der Haitianischen Revolution sah Hegel etwas Universelles“
War Hegels Herr-Knecht-Dialektik von der Revolution in Haiti inspiriert? Im Gespräch erläutert die Philosophin Susan Buck-Morss ihre originelle These und plädiert für einen neuen Blick auf die Geschichte.

Denken und Sein
Karen Ng: „Das Leben ist die unmittelbare Form der Wahrheit“
In der Wissenschaft der Logik untersucht Hegel die Strukturen des Denkens und Seins. Für die Philosophin Karen Ng ist das anspruchsvolle Werk ein Schlüsseltext der Moderne. Im Gespräch erklärt sie, weshalb Logik und Leben eine Einheit bilden.

Was heißt Dialektik?
„Das ist dialektisch!“ In manchen Kreisen sagt man damit nicht nur, dass etwas komplex ist, sondern signalisiert, dass man tiefgründig denkt. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff? Eine Erklärung von Friedrich Weißbach.

Jörg Noller „Digitale Technologien sind weder Objekt noch Subjekt“
Wie hätte Hegel auf den heutigen Stand der Technik geblickt? Der Philosoph Jörg Noller erläutert, warum künstliche Intelligenz nicht zu dialektischem Denken fähig ist, und wohin der Weltgeist steuern könnte, wenn das Metaverse Wirklichkeit wird.

Exkurs: Hegel und seine Kritiker
Götterdämmerung
Verdient Hegels Philosophie wirklich so viel Aufmerksamkeit, wie die Wissenschaft ihr heute zukommen lässt? Nein, meint Hanno Sauer. Antworten auf die Fragen, die Hegel stellte, lassen sich mittlerweile besser ohne ihn finden.

Gegner im Geiste
Der Einfluss von Hegels Denken ist unbestreitbar, doch stießen seine Ideen keineswegs nur auf Begeisterung. Wir stellen fünf berühmte Antipoden des Philosophen und ihre scharfzüngigen Abrechnungen mit ihm vor.

Hegel-Konjunkturen
Die Gesinnung eines Denkers identifiziert man am liebsten zweifelsfrei – Marxist oder Marktliberaler? Staatsdiener oder Freiheitsdenker? Hegel aber ist einmal Feind der Linken, dann der Rechten. Essay über einen Philosophen zwischen den Fronten.

Recht und Freiheit
Christoph Menke: „Wir müssen Individualität und Gemeinschaft miteinander verbinden“
Da, wo wir selbstbestimmt und unberührt von gesellschaftlichen Zwängen entscheiden können, so eine weitverbreitete Annahme, sind wir frei. Nicht so für Hegel. In seiner Philosophie sind Freiheit und Recht untrennbar miteinander verwoben. Ein Interview mit Christoph Menke.

Das Pöbel-Problem
Die Superreichen werden zunehmend zur Zielscheibe gesellschaftlicher Kritik. Doch erfasst diese den Kern des Übels? Hegel zeigt, dass hier viel mehr als materielle Ungleichheit droht, und gelangt dabei selbst an die Grenzen seiner politischen Philosophie.

Frederick Neuhouser: „Soziale Freiheit liegt in einem nichtentfremdeten Leben“
Wann werden Institutionen von Garanten der Freiheit zur unzumutbaren Einschränkung? Im Gespräch erläutert Frederick Neuhouser Hegels Sozialtheorie und erklärt, woran sich eine rationale Gesellschaftsordnung erkennen lässt.

Geschichte, Ästhetik, Religion
Verrückte Geschichte
In der Geschichte, so Hegel, offenbart sich „der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Doch wie genau sieht diese voranschreitende Bewegung aus? Ein Essay von Slavoj Žižek über die Kraft der „Verrückung“ und die Entstehung des Neuen.

Terry Pinkard: „Der Geist sind wir“
Kritiker sehen Hegels Geschichtsphilosophie als eine Theorie des unvermeidlichen Fortschritts. Eine tiefgreifende Missinterpretation, meint Terry Pinkard. Im Interview erläutert er, wie Hegels Blick auf die Geschichte von einem subtilen Verständnis der menschlichen Natur geprägt ist.

Eva Geulen: „Hegel verabschiedet das Schönheitsideal der Kunst“
Für Hegel war das „Absolute“ nur in der antiken Kunst wahrnehmbar. Und danach? Steigt die Kunst schlicht ab in die Bedeutungslosigkeit – oder eröffnen sich ganz neue Spielräume? Ein Interview mit Eva Geulen.
