Birgit Recki: „Ernst Cassirer versteht die Kultur als fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen“
Mit seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen leistete er einen Beitrag, der an Wichtigkeit für die Kulturphilosophie nicht zu überschätzen ist. Am Sonntag vor 150 Jahren kam Ernst Cassirer zur Welt, den es laut der Philosophin Birgit Recki unbedingt als Denker der Freiheit wiederzuentdecken gilt.
Frau Recki, warum war Cassirer ein Philosoph der Freiheit?
Ernst Cassirer hat einen Begriff und eine Theorie der menschlichen Kultur entwickelt, die nicht in unserem verbreiteten Alltagsverständnis vom „Kulturbetrieb“ aufgehen. Er begreift „Kultur“ so weit wie möglich als jede Weise der Gestaltung durch Hervorbringung von Bedeutung. Der Mensch schafft sich in der Kultur seine Wirklichkeit, und er schafft sie sich in „symbolischen Formen“. Cassirer betont dabei: Jeder Akt der Symbolisierung ist – als eine menschliche Leistung, die Distanz schafft zu den unmittelbar auf den Menschen wirkenden Eindrücken – ein Akt der Freiheit. Schon wenn ich es schaffe, einen Schmerz in dem einfachen Ausruf „Aua!“ zum Ausdruck zu bringen, gewinne ich einen ersten Abstand zu einer Empfindung, die mich zu überwältigen droht. Daraufhin kann ich Reflexionsdistanz entwickeln, bis zu dem Arztbesuch, bei dem ich dann in genauer Beschreibung meinen Zustand artikuliere. Cassirer bringt diese Dynamik auf die Formel „vom unmittelbaren Eindruck zum artikulierten Ausdruck“ und versteht die Kultur in ihrer ganzen Komplexität als fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen.
Was meint denn eine symbolische Form?
Mit der symbolischen Form meint Cassirer „jede Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes, sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ Er verwendet den Ausdruck, um typische Formen der Symbolerzeugung zu charakterisieren und nennt als symbolische Formen stets die Sprache, das mythische Denken, Religion, Kunst, Wissenschaft und gelegentlich Technik, Geschichte, Recht und Moral. Er illustriert die Vielfalt der symbolischen Gestaltung je nach dem dominierenden Aspekt einer symbolischen Form am einfachen Beispiel einer gleichmäßig geschwungenen Linie, die im mythischen Denken als magisches Zeichen, in der Kunst als die von William Hogarth gezeichnete Schönheitslinie, in der Wissenschaft als graphische Darstellung einer statistischen Verteilung aufgefasst wird.
Erschöpft sich denn unsere ganze Welt der Bedeutungen in diesen wenigen symbolischen Formen?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Sartres Weg zur Selbstbefreiung
Sartres frühe existenzialistische Werke behaupten die absolute, unbedingte Freiheit jedes einzelnen Menschen. Eine wirkmächtige Idee, die weit in die sozialen Emanzipationsbewegungen des späten 20. Jahrhunderts hineingewirkt hat. Aber die Freiheit hat auch eine Rückseite: die Verantwortung.

Wolfram Eilenberger: „Philosophie kann direkt in die Existenz eingreifen“
Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Ayn Rand und Simone Weil: Das sind die Protagonistinnen in Wolfram Eilenbergers neuem Buch Feuer der Freiheit. Schon in Die Zeit der Zauberer, dem zum Weltbestseller avancierten Vorgänger, hatte Eilenberger Leben und Denken von vier Geistesgrößen zusammengeführt. Damals waren es Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Nun also vier Frauen, die ihr Denken in den finsteren 1930er und 40er Jahren entwickeln. Ein Gespräch mit dem Autor über ein Jahrzehnt, in dem die Welt in Scherben lag - und vier Philosophinnen, die die Freiheit verteidigten.

„Geist des Friedens“ – Zum 150. Geburtstag Albert Schweitzers
Wenige setzten sich so beharrlich gegen Aufrüstung und Krieg und für Völkerverständigung und Frieden ein, wie Albert Schweitzer. Christoph Kann erinnert in seinem Beitrag an das pazifistische Denken Schweitzers, der vor 150 Jahren geboren wurde.

100 Jahre „Ich und Du“ von Martin Buber
1923 erschien Martin Bubers Hauptwerk Ich und Du. 100 Jahre nach Veröffentlichung, in Zeiten von Desinformation und Missverständnissen, gilt es diesen Denker des Dialogischen wiederzuentdecken, meint Stephan Grätzel.

Birgit Schneider: „Die Rottöne sind uns ausgegangen“
Um den Klimawandel zu verstehen, brauchen Menschen Bilder in Form von Kurven, Karten und Fotografien. Die Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider hat diese Bilder untersucht und erklärt, wie Klimadaten aufbereitet werden und wirken, angefangen bei Temperaturkarten Alexander von Humboldts bis zum Symbol der brennenden Erde.

Elite, das heißt zu Deutsch: „Auslese“
Zur Elite zählen nur die Besten. Die, die über sich selbst hinausgehen, ihre einzigartige Persönlichkeit durch unnachgiebige Anstrengung entwickeln und die Massen vor populistischer Verführung schützen. So zumindest meinte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) nur wenige Jahre vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. In seinem 1929 erschienenen Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ entwarf der Denker das Ideal einer führungsstarken Elite, die ihren Ursprung nicht in einer höheren Herkunft findet, sondern sich allein durch Leistung hervorbringt und die Fähigkeit besitzt, die Gefahren der kommunikationsbedingten „Vermassung“ zu bannen. Ortega y Gasset, so viel ist klar, glaubte nicht an die Masse. Glaubte nicht an die revolutionäre Kraft des Proletariats – und wusste dabei die philosophische Tradition von Platon bis Nietzsche klar hinter sich. Woran er allein glaubte, war eine exzellente Minderheit, die den Massenmenschen in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Intoleranz, seinem Opportunismus, seiner inneren Schwäche klug zu führen versteht.
Martin Luther und die Angst
Sein kultureller Einfluss ist nicht zu überschätzen: Martin Luthers Bibelübersetzung bildet den Anfang der deutschen Schriftsprache, seine religiösen Überzeugungen markieren den Beginn einer neuen Lebenshaltung, seine theologischen Traktate legen das Fundament einer neuen Glaubensrichtung. In der Lesart Thea Dorns hat Luther, der heute vor 479 Jahren starb, die Deutschen aber vor allem eines gelehrt: das Fürchten. Oder präziser: die Angst. In ihrem brillanten Psychogramm des großen Reformators geht die Schriftstellerin und Philosophin den Urgründen von Luthers Angst nach – und deren uns bis heute prägenden Auswirkungen.

Der Wertejongleur – Max Scheler zum 150. Geburtstag
Max Schelers Ansichten zum Krieg wandelten sich vom Befürworter zum Pazifisten. Gerade im Hinblick auf heutige Debatten macht ihn seine Offenheit für unterschiedliche Perspektiven zu einem wichtigen Denker des Ressentiments. Gestern jährte sich der Geburtstag des Philosophen zum 150. Mal.
