Gegen den Strich
Durch die „Black Lives Matter“-Bewegung wird weltweit über den Umgang mit Denkmälern diskutiert. Dabei braucht es vor allem Ambiguitätstoleranz – aber richtig verstanden.
Die „Black Lives Matter“-Bewegung, die nach dem Tod George Floyds weltweit zu Massenprotesten gegen Rassismus mobilisiert, hat nun auch eine erinnerungspolitische Dimension erreicht. Nachdem ein Denkmal des englischen Kaufmanns und Sklavenhändlers Edward Colston von Demonstranten im Hafenbecken von Bristol versenkt wurde, folgten rund um den Erdball ähnliche Aktionen. In Boston köpfte man etwa eine Statue Christoph Columbus‘, in Belgien wurde ein Reiterstandbild Leopold II. mit dem Schriftzug „Mörder“ versehen. Zudem wird in vielen Ländern intensiv diskutiert, ob man vergleichbare Denkmäler abmontieren und mit dem Kolonialismus in Verbindung stehende Straßennamen austauschen sollte. Kurzum: Es geht um die Frage, ob und wie westliche Nationen ihre öffentliche Erinnerungspolitik aufarbeiten, ja revidieren müssen?
Gegner solch einer Form der buchstäblich umstürzlerischen Aufarbeitung argumentieren, dass sich in derlei Selbstermächtigungen ein jakobinischer Reinheitsfanatismus Bahn breche, der nicht nur die geschichtliche Gewordenheit dieser Monumente verkenne, sondern auch kein Ende finden könne, weil man in letzter Konsequenz dann auch nicht mehr an historische Größen wie Immanuel Kant, Martin Luther oder Mahatma Gandhi öffentlich zu erinnern vermag. Schließlich finden sich in deren Schriften auch rassistische und antisemitische Passagen. Die Warnung scheint zunächst nicht völlig aus der Luft gegriffen: Tatsächlich hat es in dieser Hinsicht bereits Bestrebungen gegeben.
Schon 2018 hatte man in Accra eine Statue Mahatma Gandhis auf dem Campus der Universität von Ghana mit dem Argument entfernt, dieser friedliebende Held der indischen Unabhängigkeitsbewegung sei gleichzeitig auch Rassist gewesen, der sich in seinen frühen Schriften immer wieder diskriminierend über Afrikaner geäußert habe. Der Historiker Michael Zeuske forderte wiederum jüngst bei Deutschlandfunk Kultur, dass man auch das Gedenken an Immanuel Kant in Frage stellen müsse, da dieser in seinen anthropologischen Schriften, etwa in seinen Vorlesungen zur „Physischen Geographie“, den europäischen Rassismus mitbegründet habe.
Diese Warnungen verweisen zunächst auf einen durchaus richtigen Punkt – nur ziehen die Gegner einer erinnerungspolitischen Aufarbeitung daraus die falschen Schlüsse, und zwar aus mehreren Gründen: Es stimmt ja zunächst: Historische Persönlichkeiten müssen auch immer im Kontext ihrer Zeit bewertet werden. Es bedarf also stets eines Bewusstseins dafür, dass sie einer spezifischen geschichtlichen Epoche entstammen, in denen spezifische Normen und Werte herrschten. Zweitens ist man mit etwaigen Reinheitsfantasien erinnerungspolitisch schon deshalb schlecht beraten, weil man bei unzähligen historischen Persönlichkeiten auf zum Teil radikale Ambivalenzen stößt. Winston Churchill war Anhänger eines mörderischen Kolonialismus, hat als britischer Premierminister aber auch Nazi-Deutschland besiegt. John Locke hat die Sklaverei gerechtfertigt, ist aber ebenso einer der wichtigsten Philosophen der Freiheit. Und selbst bei Karl Marx gibt es Passagen, die sich aus heutiger Sicht rassistisch lesen. Oder um es mit den bekannten Worten Walter Benjamins aus seinem Essay „Über den Begriff der Geschichte“ zu sagen: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“
Dementsprechend braucht es im Umgang mit Geschichte in der Tat das, was der Arabist Thomas Bauer in seinem 2018 erschienenen Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ als „Ambiguitätstoleranz“ beschrieb: die Fähigkeit, Vagheiten, Uneindeutigkeiten, ja Widersprüche auszuhalten. Nur heißt das aber eben keineswegs, dass man alles so lassen könnte, wie es ist – und die erinnerungspolitischen Forderungen der „Black Lives Matter“ damit obsolet wären. Im Gegenteil. So ist aus der Perspektive der Ambiguitätstoleranz ein wahlloser Ikonoklasmus zwar zurückzuweisen, gleichzeitig erfordert sie aber die Fähigkeit zum differenzierten Erkennen, Unterscheiden und Abwägen. Und vor diesem Hintergrund gibt die „Black Lives Matter“-Bewegung einen überfälligen, geradezu ambiguitätsaktivistischen Anstoß für die westliche Erinnerungspolitik.
Denn die diskursive Botschaft von „Black Lives Matter“ lautet ja: Guckt bei Denkmälern und Monumenten genauer hin! Erkennt ihre buchstäblich brutalen Ambivalenzen! Ändert euer Erinnern! Das bedeutet freilich nicht, dass man jede Statue stürzen müsste, fordert aber eben dazu auf, mehr Ambiguität zuzulassen. Und das heißt zunächst: Kritisch zu reflektieren, dass es oft keine ungebrochene Heldenverehrung geben kann. Sprich: Man die Philosophie Kants oder Lockes natürlich nach wie vor hochhalten kann – dennoch deren dunklen Seiten nicht einfach verdrängen darf. Ebenso heißt es, dass man nach einem ambigen Abwägungsprozess auch zum Schluss kommen kann, dass Monumente demontiert – oder zumindest verändert gehören.
Die Statue Edward Colstons etwa, deren Entfernung übrigens schon seit Anfang der 1990er Jahre gefordert wird, hatte man Ende des 19. Jahrhunderts ursprünglich in Bristol aufgestellt, um an die philanthropischen Leistungen des Kaufmanns zu erinnern, da dieser in seiner Heimatstadt Schulen, Kranken- und Armenhäuser unterstützt hatte. Als Vorstand der „Royal Africa Company“ war er indes auch massiv in den Handel mit westafrikanischer Sklaven involviert, von denen in seiner Amtszeit schätzungsweise 18 000 allein bei der Überfahrt nach Amerika starben. Wägt man vor diesem Hintergrund nun ab, erkennt man schnell, dass Colston nicht „nur“ ein spendenfreudiger Repräsentant seiner Zeit war, sondern vor allem ein aktiver Profiteur des organisierten Massenmords, sodass man tatsächlich keine Argumente dafür finden könnte, warum dieser öffentlich ungebrochen geehrt werden sollte. In Bezug auf Denkmäler, die ja stets einen selektiven Akt der Erinnerung vollziehen, bedeutet Ambiguitätstoleranz nämlich eben nicht moralischen Gleichmut, sondern vielmehr auch die Fähigkeit im Angesicht von Ambivalenzen verantwortungsvoll abwägen zu können.
Folglich mag man bei anderen Monumenten auch zu anderen Schlüssen kommen. Zumal es ja auch auch nicht nur die Optionen Stehenlassen oder Demontage gibt. Im Zweifelsfall wären auch die künstlerische Verfremdung, eine Umsiedlung ins Museum oder die Ergänzung durch ein Gegendenkmal möglich. Was durch die „Black Lives Matter“-Bewegung angestoßene Debatte jedoch in jedem Fall klar ist: Gerade in Bezug auf Denkmäler und Monumente besteht die Aufgabe darin, um es abermals mit Walter Benjamin zu sagen, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ Denn genau das ist es, was der Sinn für Ambivalenzen und Ambiguitäten erfordert.•