„Living the Land“ – Und plötzlich gab es einen Traktor
Wie der wirtschaftliche und technologische Wandel das Leben umkrempelt, lässt sich am rasanten Aufstieg Chinas besonders gut studieren. Der Film Living the Land, der auf der Berlinale uraufgeführt wurde, zeigt dies am Beispiel eines chinesischen Dorfes Anfang der 1990er Jahre.
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Chinas zunehmende Vormachtstellung in der modernen Welt ist ein relativ neues Phänomen. Noch vor 30 Jahren war es ein Schwellenland und größtenteils eine Agrargesellschaft. Wie kulturell einschneidend und schmerzvoll der gesellschaftliche Wandel hin zu einer der führenden kapitalistischen Nationen war, erzählt der neue Film von Huo Meng. Der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale laufende Film ist ein Lehrstück für die geschichtsphilosophische Idee des historischen Materialismus. Auf ästhetisch zugängliche Weise führt der Film die grundlegende Bedeutung technischer Entwicklung für gesellschaftliche Transformationsprozesse vor.
Rasanter Wandel
Die Handlung spielt in einem kleinen, abgeschiedenen Dorf in der chinesischen Provinz im Jahr 1991. Das Dorf ist arm, frei von Maschinen und geprägt von einer Jahrhunderte alten Agrarkultur. Die gesellschaftliche Organisation und kulturellen Bräuche richten sich nach dem Zyklus der Natur. Man lebt von der Hand in den Mund. Die mühsame Feldarbeit steht im Zentrum des gesellschaftlichen Schaffens. Wenn die Erntezeit ansteht, bekommen die Kinder schulfrei und das gesamte Dorf von jung bis alt arbeitet auf den Feldern.
Die Gemeinschaft mit ihren verbindenden Traditionen bestimmt das Zusammenleben. Bei gesellschaftlichen Ritualen wie Hochzeiten oder Beerdigungen nimmt das ganze Dorf teil. Gemeinsam wird gefeiert und getrauert. Dabei prägen uralte, von Generation zu Generation weitergegebene Bräuche die Zeremonien. Als Nukleus der Gemeinschaft erweist sich die Familie. In kleinen, bescheidenen Häusern leben mehrere Generationen zusammen und sorgen füreinander. Die Familie ist das Zentrum allen Handelns, Lebensversicherung und Altersvorsorge.
Doch das Dorf befindet sich im Wandel. Das Leben wird zunehmend durch fremde Einflüsse bestimmt. Regelmäßig kommen Parteifunktionäre in die Stadt und prüfen im Zuge der chinesischen Kinderpolitik den Gesundheitszustand der Frauen und führen Volkszählungen durch. Das Zwei-Kinder-Gesetz der Regierung, das unter Androhung von hohen Geldstrafen verbietet, mehr als zwei Kinder zu bekommen, trifft die Gemeinschaft, die die Kinder als wichtige Arbeitskräfte auf den Feldern braucht.
Zudem kommen fortschrittliche Werkzeuge und Technologien in das Dorf, die den Alltag der Dorfbewohner zwar wesentlich erleichtern, aber ihre Lebensgewohnheiten vollkommen auf den Kopf stellen. So kauft sich etwa ein Bauer einen Traktor, der die einstige Tagesarbeit des ganzen Dorfes in wenigen Stunden verrichtet. Nachdem man als Zuschauer vorher in ausführlichen Szenen gesehen hat, wie mühsam die Felder vorher bestellt wurden, stellt das ohne Zweifel einen Fortschritt dar. Und doch gehen damit fundamentale gesellschaftliche Transformationsprozesse einher. Die gemeinschaftliche Arbeit geht verloren und damit die Einnahmequelle eines Großteils der Bevölkerung. Alternative Geldverdienstmöglichkeiten, wie etwa das traditionelle Ziegelbrennen, haben durch die Konkurrenz großer Fabriken ihren Wert verloren. Um Geld zu verdienen, beginnen immer mehr Menschen deswegen in die Städte zu ziehen. Dort verkaufen sie ihre Arbeitskraft an große Fabriken – eben jene Fabriken, die das Leben auf dem Land immer unmöglicher machen. Durch den Wegzug bekommt die Einheit der Gemeinschaft Risse und geht zusehends zu Bruch.
Dialektik des Fortschritts
Der Film führt diese Dialektik des Fortschritts auf empathische und keineswegs belehrende Art und Weise vor. Er begleitet das Schicksal des 10-jährigen Chuang, der als drittes Kind allein bei seinen Großeltern aufwächst, während die Eltern mit seinen Geschwistern in der Stadt ihr Geld verdienen. Seine Großeltern und seine Tante übernehmen seine Erziehung. Weil er nicht den Nachnamen seiner Mutter trägt, die aus diesem Dorf stammt, bleibt er Außenseiter. Durch seine fremden Augen werden die alten Traditionen und Bräuche in all ihrer Ambivalenz vorgeführt.
Besonders einprägend ist das Schicksal seiner ihn erziehenden Tante. Ein junger Parteifunktionär verliebt sich in sie und will sie heiraten. Sie ist eigentlich in jemand anderen verliebt, muss sich aber dem gesellschaftlichen Druck, der durch die gesellschaftliche Position des Beamten entsteht, beugen. Ihre Vermählung steht im Film sinnbildlich für die Vereinigung zwischen Tradition und Fortschritt. Hier die fest in die traditionellen Strukturen des Dorfes eingebundene Tante, dort der von außen mit einem sonst im Dorf nichtexistierenden Auto kommende Funktionär. Er hat zwar Macht, aber keine Manieren und keinen Sinn für das gemeinschaftliche Zusammenleben und ihre Traditionen. Die Hochzeitszeremonie in seiner Heimatstadt verkommt zu einer Farce, bei der sich seine Kollegen über die alten Bräuche lustig machen und sie verspotten.
In kleinen Nebengeschichten wie diesen führt der Film die gesellschaftlichen Transformationsprozesse vor und verdeutlicht, wie mit ihnen der gesamte gemeinschaftliche Zusammenhalt, die Bräuche und Traditionen verloren gehen und stattdessen zunehmend die Partei, die Rationalität und mit ihr der Fortschrittsglaube das gesellschaftliche Handeln bestimmen. Deutlich wird diese Entwicklung im Film am Ritual der Totenfeier. Der Film beginnt mit einer Szene von einer auf dem Land stattfindenden traditionellen Totenzeremonie, bei der das ganze Dorf beteiligt ist, und endet mit dem maschinellen Einäscherungsprozess einer Toten in einem sterilen Bestattungshaus.
Der Film zeigt zwei Dinge: Zum einen, wie sehr gesellschaftlicher Wandel an der sich verändernden Technik hängt. Besonders im Lichte des gerade sich vollziehenden technologischen Umbruchs durch die Künstliche Intelligenz und die damit einhergehende Umstrukturierung alter Arbeitsprozesse erweist sich die Geschichte als hochaktuell. Zum anderen, dass eine Verbesserung der Produktionsverhältnisse und die damit einhergehende Vereinfachung der Reproduktionsarbeit nicht mit mehr Freiheit einhergehen. Eine Szene bleibt im Gedächtnis und sollte uns zu denken geben: Als der Traktor geliefert wird, berichtet der eine Bauer dem anderen, dass in den USA fünfmal so große Maschinen zehnmal so viel Land allein beackern können. Der Bauer staunt und fragt: „Was machen die Menschen dann wohl nur mit ihrer ganzen freien Zeit?“ •
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