Sinn sucht Ich
Da Menschen nicht einfach sind, was sie sind, müssen sie sich ihre eigene Geschichte erzählen. Über meinen immer wieder scheiternden Versuch, mir eine sinnstiftende Erzählung auf den Leib zu schreiben.
Lesen Sie hier eine ausführlichere Version des Essays, der in gekürzter Form in unserer gedruckten Ausgabe erschienen ist.
Seit ich anfing, mich mir selbst als Roman zu erzählen, wahrscheinlich mit Beginn meiner Adoleszenz, verspürte ich den Drang zur Finalisierung, zwar in Form einer verästelten Komposition, die allem, was mich ausmachte, Rechnung tragen sollte, aber doch als etwas Fertiges anzuschauen wäre. Der Ekel angesichts meiner Unzulänglichkeiten formt den lächerlichen Wunsch als Monument zu erscheinen, als etwas, das auf objektive Weise daherkommt, ohne durch den Zufall meiner wechselnden Launen und den tagesformbedingten Varianzen meines Könnens, kurz, durch Kontingenzen verunreinigt zu werden. Wie Jean-Paul Sartre in Die Wörter beschrieben hat, erhebt sich in mir immer aufs Neue das Bedürfnis, wie ein Toter als mein eigenes Werk zu erscheinen, das Unbestimmte und Offene des Daseins provoziert mich dazu, mich in Bronze zu gießen, in Zeitläufen trotzende Abgeschlossenheit, ein „Ich“ in Form von soundsoviel Bänden zu sein, die ich mir im Schuber ins Regal stellen kann. Es geht darum, mich zu „haben“, anstatt „sein“ zu müssen.
Nun ist klar, dass diese lebensverneinende Idee – geboren aus der allgemeinen Angst vor der Freiheit und diversen idiosynkratischen Ängsten – an der notwendigen Wirklichkeit des Menschseins zerbricht, und stetig aus den Scherben zusammengeklebt, ja in neuen Arrangements wieder aufgebaut wird.
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