10 lateinische Zitate kurz erklärt
Man überliest sie als unverständliche Einsprengsel in den Werken der Klassiker oder sieht sie als Motivationssprüche im Netz. Wir gehen der philosophischen Bedeutung von zehn lateinischen Sätzen auf den Grund.
„Carpe diem“ („Nutze den Tag“)
Nur wenige lateinische Redewendungen gehen so unter die Haut wie dieser – wortwörtlich. Denn viele Menschen lassen sich „Carpe diem“, was sich mit „nutze den Tag“ übersetzen lässt, als Motivationsspruch tätowieren. Dabei hat diese Weisheit eine lange Geschichte und findet sich bereits bei Horaz, der darin die Essenz von Epikurs Lehre sieht. Entsprechen ist die Wendung bei genauerem Hinsehen auch vielschichtiger, als es zunächst den Anschein haben mag. Stellt sich doch die Frage, ob „Carpe diem“ als Ermahnung zu verstehen ist, jeden Augenblick zu genießen, ohne sich um etwas anderes als das eigene Glück Gedanken zu machen. Oder vielmehr als Aufforderung, gut abzuwägen, was die eigene Zeit und Aufmerksamkeit wirklich lohnt. Die Lehre des Satzes liegt tatsächlich genau in der Vereinigung dieser beiden Überlegungen: Um den Wert des gegenwärtigen Augenblicks schätzen und ein glückliches Leben führen zu können, muss man sich der Endlichkeit der eigenen Lebenszeit bewusst sein.
„Errare humanum est“ („Irren ist menschlich“)
Diese Formel findet sich prominent in den Schriften Senecas, jedoch in leichten Abwandlungen auch bei Augustinus und Cicero. Wichtig für das Verständnis dieses Ausspruches ist, dass die Autoren unter „Irrtum“ nicht nur den intellektuellen Fehltritt, sondern auch die moralische Verfehlung sowie die religiöse Sünde fassen. Wirklich verständlich wird der Ausspruch allerdings erst, wenn man – wie es so oft geschieht – seinen zweiten Teil nicht verschweigt. Vollständig lautet dieser nämlich: „Errare (Errasse) humanum est, sed in errare (errore) perseverare diabolicum.“ Übersetzt also: „Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.“ Recht verstanden, sagt er demnach aus, dass ein aus Unwissenheit, Laster oder Sünde begangener Irrtum erst dann problematisch ist, wenn er nicht eingestanden wird und so keine Möglichkeit zur Korrektur und zur Besserung besteht.
„Magister dixit“ („Der Lehrer hat gesagt“)
Diesen Ausdruck findet sich besonders oft in den Schriften mittelalterlicher Autoren der Scholastik, für die es üblich war, die Richtigkeit eigener Überlegungen durch Berufung auf ähnliche Aussagen von Denkern vor ihnen zu legitimieren. Besonders ein antiker Philosoph musste weit bis ins 17. Jahrhundert hinein als argumentative Stütze herhalten: Der besagte Meister ist nämlich oft kein anderer als Aristoteles. An vielen Stellen taucht er schlicht als „der Philosoph“ auf und auch die Formel „Aristoteles dixit“, „Aristoteles hat gesagt“, oder „Ipse dixit“, „Er selbst hat gesagt“, findet sich in einigen Schriften. Damit ist der Satz der Inbegriff eines sogenannten „Autoritätsarguments“, bei dem die Aussagen eines Autors mit unbestrittenem Ruf als Beweis für ihre Richtigkeit herangezogen werden.
„Divide et Impera“ („Teile und herrsche“)
Oft wird dieser Satz dem italienischen Philosophen Machiavelli zugeschrieben. Und auch wenn der Florentiner der Aussage vermutlich zugestimmt hätte, da auch er in seinem Werk Der Fürst aus dem Jahr 1513 empfiehlt, Zwietracht unter seinen Feinden zu säen, um diese zu schwächen und die eigene Macht auszubauen und zu erhalten, findet sich der Ausspruch so nicht in seinen Schriften. Tatsächlich war er nämlich bereits weit vor Machiavellis Lebzeiten bekannt. Einige Historiker schreiben ihm dem französischen König Ludwig XI. zu. Andere dem römischen Kaiser Caesar. Abschließend konnte dessen Herkunft bis heute allerdings nicht geklärt werden.
„Homo homini lupus“ („Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“)
Erstmals findet sich dieser Satz beim lateinischen Komödiendichter Plautus und wurde in der Folge von einflussreichen Denkern wie Erasmus, Montaigne oder Bacon immer wieder aufgegriffen. Breiter bekannt gemacht wurde er allerdings von dem Philosophen Thomas Hobbes durch sein Werk Leviathan aus dem Jahr 1651. Hobbes nutzt ihn, um zu veranschaulichen, wie man sich das Leben im Naturzustand und im „Krieg aller gegen alle“ („bellum omnium contra omnes“) vorzustellen hat. In einem hypothetischen Naturzustand, das heißt, bevor sich die Menschen entschließen, sich staatlich zu organisieren, stellt jeder Mensch eine Bedrohung für seine Mitmenschen dar. Sicherheit und Frieden können daher nur durch das Eintreten in einen „Gesellschaftsvertrag“ gewährleistet werden, zu dessen Einhaltung sich alle gegenseitig verpflichten.
„Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich")
Bei diesem Satz handelt es sich vermutlich um eines der bekanntesten philosophischen Zitate überhaupt. Auf der Suche nach einem nicht weiter kritisierbaren Fundament der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zeigt der französische Philosoph Descartes in seinem Werk Meditationes de prima philosophia aus dem Jahr 1641, dass es möglich ist, an fast allem zu zweifeln. An fast allem? Tatsächlich, lässt sich doch seiner Meinung nach nicht bezweifeln, dass etwas existiert, das zweifelt. Er schreibt: „Da es ja immer noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder phantasiert, selber nicht mehr zweifeln.“ Und so schließt er entsprechend: „Cogito ergo sum“, „Ich denke, also bin ich“. Von diesem Fundament aus will Descartes die Erkenntnisfähigkeit auf ein unerschütterliches Fundament stellen.
„Video meliora proboque, deteriora sequor“ („Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich“)
Diese tiefe Einsicht in die oft allzu widersprüchliche Struktur menschlicher Handlungen legte Ovid erstmals der Figur Medea in seinen Metamorphosen aus dem 8. Jahr nach Christus in den Mund. Aufgegriffen wurde der Satz später unter anderem von Spinoza, der ihn in seiner Ethik untersucht und sich fragt, warum es nicht auszureichen scheint, dass man weiß, was gut ist, um es auch tatsächlich zu tun. Neigen wir als Menschen von Natur aus zum Bösen und Schlechten? Liegt es an der Schwäche unseres Willens, der nicht mit unserem Verständnis des Guten mithalten kann? Oder unterschätzen wir schlicht die Kraft unserer Leidenschaften? Das Phänomen, dass wir genau wissen, was wir tun sollten, es aber nicht tun, hat einen Namen: „Akrasie“, was sich mit „Handeln wider besseres Wissen“ übersetzen lässt und leider auch noch heute Stark in uns zu sein scheint.
„Esse est percipi“ („Sein ist Wahrgenommenwerden“)
Wenn der irische Philosoph Berkeley diesen Ausdruck verwendet, will er damit sagen, dass die Dinge streng genommen nicht außerhalb unserer Wahrnehmung existieren. Um bei seinem berühmten Beispiel zu bleiben: Was wir als „Kirsche“ bezeichnen, ist nichts anderes als die Vereinigung einer bestimmten Form, eines bestimmten Geschmacks, einer bestimmten Textur und eines bestimmten Dufts. Die Kirsche hat keine materielle Realität oder klare Abgrenzung, die über die Summe dieser Empfindungen hinausgeht. Doch was ist mit uns selbst? Wir existieren nicht nur als wahrgenommene Wesen, sondern auch als wahrnehmende Subjekte: Entsprechend lautet die vollständige Formel auch: „Esse est percipi aut percipere“, „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“. So drückt sich in dem Satz eine nominalistische Haltung, die im Wesentlichen besagt, dass die Welt für den Menschen erst dann existiert, wenn er sie durch willkürliche Konventionen misst, erfährt, benennt oder abgrenzt.
„Amor fati“ („Liebe zum Schicksal“)
Anders als viele andere lateinische Redewendungen datiert „Amor fati“ nicht zurück in die Antike, sondern findet sich im Werk Fröhliche Wissenschaft aus dem Jahr 1882 des selbst ernannten „letzten Stoikers“ Friedrich Nietzsche. Das Schicksal zu lieben, bedeutet für Nietzsche anders als für die Stoiker allerdings nicht, sich mit dem abzufinden, was ist, sondern sich am Leben zu erfreuen. Und zwar so, wie es ist und mit allem, was es mit sich bringt. Auch wenn das heißen mag, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die uns missfallen und mitunter größte Mühsal bereiten. Der einzige Weg, sein Leben ohne Reue zu leben, besteht für Nietzsche darin, es vollkommen zu akzeptieren.
„In vino veritas“ („Im Wein liegt die Wahrheit“)
Manche Menschen vermuten den Sitz der Wahrheit an seltsamen Orten: im Mund von Kindern, auf dem Grund von Brunnen oder – wie Plinius der Ältere als erster – im Wein. Søren Kierkegaard griff diese Idee auf und widmete ihr 1845 sogar ein Buch gleichen Titels (In vino veritas). Seiner Meinung nach denken wir klarer, wenn wir leicht einen sitzen haben und sind betrunken mitunter aufrichtiger, weil wir uns weniger Gedanken über die Folgen unserer Äußerungen machen und deshalb offener sprechen. Wie der Wahnsinn, so Kierkegaard, verschaffe uns auch der Rausch Zugang zu einer tieferen Form des Sprechens. Wer lausche, so Kierkegaard, könne besonders dem eigenen Lallen einige Wahrheit entnehmen. •
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