Wittgenstein und der Sinn
Ludwig Wittgenstein, der am 29. April 1951 gestorben ist, hielt die meisten philosophischen Sätze für schlicht „unsinnig“. Was er damit meinte? Wir helfen Ihnen in dieser Folge von Klassiker kurz erklärt weiter!
Das Zitat
„Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben wurden, sind nicht falsch, sondern unsinnig.“
Tractatus Logico-Philosophicus (1918)
Die Erklärung
Stellen Sie sich vor: Sie liegen auf einem Operationstisch, kurz vor einer lebensentscheidenden Operation, und der Arzt erwähnt beiläufig, dass das meiste, was über Medizin geschrieben wurde, unsinnig sei. Was würden Sie tun? Sicherlich die Beine in die Hand nehmen. Für einen Philosophen kommt Wittgensteins Aussage also scheinbar einem intellektuellen Selbstmord gleich. Das Zitat stammt aus dem Tractatus Logico-Philosophicus von 1918, der die Sprachphilosophie tief beeinflusste und in dem es um nichts weniger als um die endgültige Beseitigung aller philosophischen Probleme geht. Deren Wurzel sieht Wittgenstein in unserer Sprache. In der Umgangssprache, in der Wissenschaft, in Gebrauchsanweisungen – immer benutzen wir Worte, die Symbole für Dinge, Tätigkeiten oder Eigenschaften sind, und setzen sie zueinander in Beziehung, um damit Tatsachen auszudrücken. Dass wir durch Sprache Tatsachen ausdrücken können, ist eine erstaunliche menschliche Besonderheit. So schreibt Wittgenstein: „Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser.“
Daher ist sie ebenso anfällig für Fehler und Störungen. Schließlich können wir auch Sätze bilden, die nur scheinbar einen Sinn ergeben. Der Satz „Dieser Satz ist falsch“ zum Beispiel ist ein Paradox – denn wenn er stimmt, dann ist er falsch, und wenn er falsch ist, dann stimmt er wieder. Hier ist zwar ein grammatikalisch korrekter Satz geformt, aber weil er sich selbst widerlegt, drückt er keine Tatsache aus. Er ist also nicht falsch, sondern sinnlos, da er nichts beschreibt, was wahr oder falsch sein könnte. In verzwickteren Fällen, so behauptet Wittgenstein, ist der Unsinn der Sprache nur schwer zu sehen – es entstehen philosophische Probleme, die das Denken befallen wie Krankheiten. Die Aufgabe der Philosophie besteht dann darin, zu therapieren. Und zwar nicht, indem sie nur die Symptome, die philosophischen Fragen und Probleme, behandelt, sondern vielmehr den Grund, die Widersprüche der Sprache selbst. Wittgenstein dazu: „Wir können daher philosophische Fragen überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Und es ist nicht verwunderlich, dass die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind.“ Nach der Fertigstellung des Tractatus verließ Wittgenstein die Universität und wurde Grundschullehrer. Wozu soll man auch im Krankenhaus bleiben, wenn man geheilt ist? •
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