Adorno im Kino
Das Kino ist ein Sehnsuchtsort – nicht nur in Zeiten der Pandemie. Was aber kann der Kinofilm, was Streamingdienste nicht können? Antworten auf diese Frage finden sich ausgerechnet bei einem Denker, der als Gegner aller kulturindustriellen Erzeugnisse gilt: Theodor W. Adorno.
Liebhaber des Kinos geraten in ein leicht sentimentales Schwärmen, wenn sie an Cinema Paradiso (1988) denken. Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes namens Salvatore, der als erfolgreicher Regisseur nach vielen Jahren in sein sizilianisches Heimatdorf zurückkehrt, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Der Filmvorführer des Ortes, alt und bei einem Brand im Kino vor vielen Jahren erblindet, ist gestorben. Er war wie ein liebevoller Vater für den kleinen „Toto“ und ließ ihn in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Luke im Vorführraum die Dramen auf der Leinwand bewundern. Mit großen Kinderaugen und freudestrahlendem Gesicht lernt der Kleine die Welt des Kinos kennen.
Aus der Rückschau erscheint diese Zeit des Kinos als verlorenes Paradies. Darin steckt natürlich Verklärung, aber doch auch ein Erfahrungskern. Das kann man sich heute unter ganz anderen historischen Umständen klarmachen. Seit einem Jahr zwingt uns die Bekämpfung einer weltumspannend grassierenden Epidemie zum Verzicht auf eingeübte demokratische Rechte und kulturell eingespielte Vorrechte. Der Verzicht aufs Kino gehört dazu. Es ist, als hätte Platon, verkleidet als Premierminister, die Exilierung des Kinos mitsamt der Kunst aus dem Gesundheitsstaat verkündet: Kultur ist bis auf Weiteres verboten.
Allerdings bietet die aktuelle, auf die gesamte Bevölkerung zielende Biopolitik eine gewisse Kompensation an, die Streamingdienste nämlich, die die zwangsentwöhnten Cineasten mittlerweile ausgiebig nutzen. Kino im Wohnzimmerformat, sagt man sich, ist besser als gar keins. Es ist auf jeden Fall preiswerter, denn ein Monatsabonnement bei Netflix oder Amazon Prime kostet mitunter weniger als eine Kinokarte. Überdies hat man die bekannten Vorteile des häuslichen Fernsehens auf seiner Seite, die Pausentaste, Nachschub an Bier und keine wildfremden Zuschauer auf den Nebenplätzen, die ungefragt Kommentare zum Besten geben, auf ihrem Handy herumspielen und die Kartoffelchips noch geräuschvoller verzehren als man selber.
Lukrativer scheint die neue Situation inzwischen nicht nur für die Konsumenten, sondern auch die Produzenten. Nachdem das berühmte Hollywood-Studio Warner Bros. den Blockbuster Wonder Woman 1984 kürzlich in nur noch wenigen Kinos laufen ließ, ihn aber als Stream im US-amerikanischen Fernsehen anbot, muss man davon ausgehen, dass andere Studios nachziehen werden. Das Kino droht damit seine Exklusivität und – schlimmer noch – seine Eigenart zu verlieren. Von der „Königsklasse für die Aufführung eines Films“ (Verena Lueken) schrumpft es auf das Wohnzimmerformat des Immergleichen, in dem es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Kino, Fernsehen und YouTube-Video.
Hinter der Polemik
Worin aber besteht die Eigenart des Kinofilms? Worin zeigt sich seine spezifische Ästhetik? Was genau würden wir vermissen, wenn das Heimkino das Saal- oder Freiluftkino, wenn die Streamingkultur die Kinokultur ersetzen würde? Erstaunlicherweise gibt darauf ein Philosoph überzeugende Hinweise, den man gemeinhin gewiss nicht zu den Liebhabern des Films zählt, nämlich Theodor W. Adorno.
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