Alena Buyx: „Natürlich wollen wir gehört werden“
Durch die Pandemie hat der Deutsche Ethikrat an öffentlicher Bedeutung gewonnen. Doch wie funktioniert dieser überhaupt? Die Vorsitzende Alena Buyx erklärt die Arbeitsweise des Gremiums und spricht über den Vorwurf, die Politik lagere Entscheidungen an den Rat aus.
Frau Buyx, vielen Menschen ist die Existenz des Deutschen Ethikrates erst durch die Pandemie ins Bewusstsein getreten. Deshalb zunächst die Frage: Wie kann man sich die Arbeit des Gremiums eigentlich konkret vorstellen?
Der Deutsche Ethikrat ist ein ehrenamtliches Expertengremium, angeschlossen an den Deutschen Bundestag, das sich mit ethischen und gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, die sich aus Entwicklungen in Medizin, Lebenswissenschaften und darüber hinaus ergeben. Dies tun wir etwa durch öffentliche Veranstaltungen, aber auch durch Stellungnahmen und Ad-hoc-Empfehlungen für die Politik, die wir in Arbeitsgruppen vorbereiten. Konkret kann man sich das als gemeinschaftlichen, recht wissenschaftlichen Schreibprozess vorstellen. Es gibt verschiedene Textentwürfe, über die in der Arbeitsgruppe diskutiert wird, dann einen Rohentwurf, der ins Plenum geht, kommentiert wird und wieder in die Arbeitsgruppe zurück geht, je nach dem noch mehrere weitere Fassungen, und am Ende wird das fertige Dokument im Plenum verabschiedet. Das Plenum tagt einmal im Monat, eigentlich in Präsenz in Berlin. Aktuell jedoch online. Dieser Arbeitsprozess nimmt natürlich viel Zeit in Anspruch. Bis eine Stellungnahme im Umfang von 200 Seiten fertig ist, wie es sie in der Vergangenheit regelmäßig gab, kann es schon mal ein oder zwei Jahre dauern. Seit der Pandemie veröffentlichen wir aber vermehrt die bereits erwähnten Ad-hoc-Empfehlungen. Dafür ist das Gremium eigentlich nicht gemacht, die aktuelle Lage erfordert eine solche Arbeitsweise aber natürlich stärker. Hier läuft der Prozess, den ich Ihnen gerade beschrieben habe, eben nicht in einem Jahr, sondern innerhalb von einigen Wochen ab.
Das klingt mitunter nach einer sehr philosophischen Arbeit, da Sie und die anderen Mitglieder im Grunde nach den präzisesten Formulierungen suchen, so wie sich auch die philosophische Arbeit am Begriff versteht.
Das ist einerseits richtig. Andererseits geht es uns nicht nur um begriffliche Klärung, sondern auch um eine Kenntnis und Darstellung des relevanten Sachstandes und natürlich die argumentative Entwicklung von Positionen und sich ableitenden Empfehlungen. Dennoch tauschen wir uns besonders zum Beginn des Prozesses immer wieder über Begrifflichkeiten aus.
Als Medizinethikerin studierten Sie u.a. auch Philosophie. Inwiefern kommt Ihnen diese philosophische Grundausbildung bei Ihrer Arbeit zugute?
Ich profitiere sicher häufig von dem, was Sie treffend als „philosophische Grundausbildung“ bezeichnen, da ich immer wieder betone, dass ich mich nie als Philosophin beschreiben würde. Auch wenn die Philosophie nicht die einzige Disziplin ist, der es um die Schärfung von Begriffen geht – denken Sie nur an die Rechtswissenschaft –, hat man sicher einen Vorteil, wenn man wie ich unter anderem von der analytischen Philosophie geprägt ist. Allein schon deshalb, weil man sich bewusst ist, dass Begriffe gelegentlich Vorannahmen transportieren, die hohe Relevanz entfalten können. Das bedeutet etwa, dass auch rein deskriptive Begriffe eine präskriptive Ladung besitzen, also ‚kryptonormativ‘ sein können.
Was wäre ein Beispiel für eine solchen präsupponierenden Begriff?
Nehmen Sie „Privilegien“. Dieser Begriff transportiert eine ganze Menge an Bedeutung, die jeweils expliziert werden muss. Und in Bezug auf die aktuelle Diskussion zum Umgang mit geimpften Menschen ist er auch einfach falsch, weil es ja in nicht um eine Besserstellung geht, sondern darum, dass Einschränkungen von Grundrechten zurückgenommen werden.
Dennoch ist die aktuellste Ad-hoc-Empfehlung des Ethikrats mit der Frage „Besondere Regeln für Geimpfte?“ überschrieben. Laufen Sie hier nicht genau in diese Falle?
Sicher haben Sie auch gesehen, dass diese Formulierung so nur in der Überschrift und im einleitenden Text verwendet wird. Warum machen wir das? Um an die öffentlichen Diskussionen anzudocken. Wir benutzen also bewusst eine unsaubere begriffliche Wendung, um darauf hinzuweisen, dass wir diesen öffentlichen Diskurs um „Privilegien“ auf dem Schirm haben und adressieren. Im weiteren Verlauf beschrieben wir dann jeweils klar, worum es geht, also etwa Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen, Zugang zu Dienstleistungen usw. Wir benutzen „Privilegien“ nur einmal, und dort kontrastierend, im Abschnitt zu privaten Angeboten Dritter. Dennoch haben wir lange darüber gestritten, ob wir diese Titel-Formulierung so nutzen wollen.
Einige Medien griffen die Empfehlung allerdings verkürzt auf und titelten beispielsweise „Ethikrat: Keine Sonderregeln für Geimpfte“. Ist der Schuss also nach hinten losgegangen?
Es war in diesem Fall wirklich ein kompliziertes Argument. Normalerweise schafft man es eigentlich immer, den Kern unserer Position in drei Sätzen zusammenzufassen, was gut ist, um konzise in den Nachrichten auftreten zu können. Das ist allerdings mit dieser Position nicht so leicht möglich. Die spiegelt eine Konsensfindung wider und braucht einfach ein bisschen mehr Platz, weil sie abwägt im Stil von „In dem einen Bereich, in dem anderen. Je mehr, desto. Wenn dies, dann jenes. Und dann gibt's noch Ausnahmen.“ Es ist aber auch verständlich, dass es bei solchen doch recht komplexen ethischen Abwägungen auch mal zu Missverständnissen seitens der Medien kommt. Deswegen hat mich das nicht im eigentlichen Sinne überrascht oder gar geärgert. Ich war eher etwas enttäuscht, dass auch im Nachgang und der ausführlicheren Diskussion klar wurde, dass nicht alle das Papier so sorgfältig gelesen haben, wie man sich das vielleicht wünschen würde. Als Versagen sehe ich das nicht. Weder von unserer Seite noch seitens der Medien. Hierbei handelt es sich einfach um eine Lernerfahrung, die da lautet: Ein etwas komplexeres Empfehlungskonstrukt wie dieses übersteht seinen Weg in die Schlagzeilen nicht zwangsläufig unbeschadet.
Durch die aktuelle Lage greift die Politik recht häufig auf Empfehlungen des Ethikrates zurück. Können Sie denn die Befürchtung entkräften, dass da besonders schwierige Entscheidungen ausgelagert werden, um sich dann auf diesen berufen zu können und nicht selbst schuld zu sein?
Das werde ich häufig gefragt und deshalb gebe ich Ihnen hierauf auch eine ganz klare Antwort: Ausgelagert wird da gar nichts. Wir beraten. Und die Politik kann diese Beratung annehmen, sie kann sie nicht annehmen oder teilweise annehmen. Die Verantwortung liegt jedoch ganz bei der Politik. Was ich hingegen in der Tat sehr hoffe ist, dass wir ein wichtiger Impulsgeber für die Politik sind, denn wir wollen natürlich gehört werden. Dennoch ist allen klar, dass die Politik ganz unterschiedliche Aspekte in ihre Entscheidungsfindung miteinbezieht, von denen unsere Empfehlungen hoffentlich ein ganz wichtiger sind. Aber nochmal: Das ist kein Vorentscheiden in einem relevanten Sinne.
Wenn Sie sich in der Öffentlichkeit äußern, können Sie dies noch als Alena Buyx tun oder zumindest als Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München? Oder sind Sie immer die Vorsitzende des Ethikrats?
Das wird zunehmend schwieriger. Dennoch nehme ich mir schon immer wieder heraus, auch als Wissenschaftlerin im eigenen Recht zu sprechen. Insbesondere Vorträge halte ich eigentlich fast immer als Medizinethikerin, weil ich dann auch freier reden kann und nicht nur Ethikratspositionen vorstellen muss. Denn ich habe ja viele eigene Positionen und forsche ja auch viel selbst bzw. mit meinen Mitarbeitern am Institut. Nur ist das in meinem Fall eben alles nicht ganz einfach, weil sich einige meiner Themen mit denen des Ethikrats überschneiden oder zumindest recht nah beieinanderliegen. Also inzwischen weiß ich schon, dass mein Name in der Öffentlichkeit sehr eng mit dem Amt verbunden ist.
Seit Ihrer Ernennung zur Vorsitzenden im Mai 2020 ist die Pandemie das alles beherrschende Thema. Würden Sie auch gerne mal zu anderen Themen arbeiten? Oder empfinden Sie das die Abwägung ethischer Fragen rund um das Virus nicht als ermüdend?
Auch wenn es nicht ganz so stark öffentlich sichtbar ist, darf man ja nicht vergessen, dass wir kontinuierlich auch an anderen Themen arbeiten. Wir erörtern beispielsweise Fragen der Selbsttötung und auch das ist durchaus öffentlich wahrgenommen worden. Ebenso arbeiten wir derzeit zum Verhältnis von Mensch und Maschine. Es ist also nicht so, dass wir die ganze Zeit nur Corona machen, auch wenn das Thema derzeit natürlich im Vordergrund steht. Und ich forsche wie gesagt selbst auch noch zu anderen Themen. Aber noch viel wichtiger: Wenn ich jetzt sagen würde, dass ich des Themas überdrüssig wäre, wäre das wirklich Meckern auf sehr hohem Niveau. Es ist im Augenblick Teil des Amtes, fertig. Andere Leute sind erkrankt oder gestorben, haben ihre Jobs verloren, sind seit Monaten in Kurzarbeit oder isolieren sich, weil sie irgendwelche gesundheitlichen Risiken haben. Klar ist man mal genervt. Aber das ist in meiner Situation wirklich ein reines Luxusproblem. •
Alena Buyx ist Professorin für Medizinethik und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Die Medizinerin, Soziologin und Philosophin übernahm 2018 nach Stationen in Münster, Harvard, London und Kiel eine Professur für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Technische Universität München. Sie leitet dort zudem das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Buyx berät mehrere internationale Organisationen in aktuellen ethischen Fragen, unter anderem die Weltgesundheitsorganisation. Dem Deutschen Ethikrat gehört sie seit 2016 an.
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