Carolin Emcke: „Intellektuelle zeigen sich durchlässig für Anfechtungen“
Camus war nicht nur Philosoph, sondern immer auch öffentlicher Intellektueller, der Stellung zum Geschehen in der Welt bezog. Was macht solch ein engagiertes Denken aus? Ein Gespräch über den Krieg, die Pandemie und den Einsatz für Solidarität und Demokratie in unserer Zeit.
Philosophie Magazin: Frau Emcke, als wir dieses Gespräch verabredet haben, wollten wir über Albert Camus und Ihre geteilte Rolle als öffentliche Intellektuelle sprechen. Heute ist die Welt eine andere: Es herrscht Krieg, Russland bombardiert ukrainische Städte, man fühlt sich sprachlos. Wie haben Sie in den letzten Tagen versucht, Worte für das, was geschieht, zu finden?
Carolin Emcke: Das dominierende Gefühl war eher Scham. Für Sprachlosigkeit und Ohnmacht ist es wirklich zu spät. Mir kommt das eigene Schreiben unzureichend vor. Es ist wie mit der zu kurzen Decke, unter der man friert, und man zieht und rupft – und es bleibt doch kalt. Und trotzdem muss man zuhören, lesen, sprechen, schreiben.
„Pest und Krieg“, heißt es bei Albert Camus, treffen „die Menschen immer unvorbereitet“. Hat Sie der Krieg überrascht?
Über die Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit des Regimes Putins konnte niemand überrascht sein. Wo haben diejenigen, die jetzt auf einmal erst erkennen wollen, was für ein brutaler Autokrat Putin ist, eigentlich die letzten Jahre verbracht? Das war in Georgien, in Syrien, auf der Krim, im Donbass zu erkennen, aber es war auch in Russland in der Repression von Menschenrechtler:innen, Journalist:innen, Homosexuellen zu sehen. Von der Finanzierung rechtsradikaler Parteien in Europa und den manipulativen Interventionen beim Brexit und der Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten 2016 mal ganz zu schweigen. Aber zur Wahrheit gehört auch: Mich hat diese Form von komplett entgrenztem Angriffskrieg überrascht.
Die Menschen überall sind tief betroffen, demonstrieren gegen den Krieg, sammeln Spenden, nehmen Familien aus der Ukraine auf. Was können Sie und andere Personen, die eine starke öffentliche Stimme haben, ausrichten?
Wir können versuchen, diese humanitären Strukturen und Gesten auch langfristig zu stützen, wir können und müssen immer auch fragen: Wer wird vergessen, wer kommt zu kurz? Es wird sicher wieder Stimmen und Bewegungen geben, die bald Abwehrreflexe und sozialen Unmut organisieren wollen – da gilt es dann zu widersprechen. Der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie ist keine Freizeitbeschäftigung, nichts, das sich partiell oder punktuell aktivieren lässt, wenn es gerade opportun erscheint. Das muss eben immer gelten. Das ist immer nötig.
Lassen Sie uns zu Camus kommen, der ebenso wie Sie gegen Krieg und Ungerechtigkeit seine Stimme erhob und den Sie einmal als eines Ihrer Vorbilder im Denken benannten. Erinnern Sie sich, wie Sie Camus in Ihrer Lektüre das erste Mal begegnet sind?
Ich bin Camus als junge Lesende in der Schule das erste Mal begegnet. Und, das ist vielleicht in Deutschland weniger präsent, ich bin ihm sehr früh als Theaterautor begegnet. Wir haben in der Schule ein Theaterstück von Camus aufgeführt. Ich meine, es war „Das Missverständnis“. Insofern war Camus für mich sehr früh mit einer beeindruckenden Vielfalt im Genre verbunden, als jemand, der Essays schrieb, der Romane schrieb, der Theaterstücke schrieb, der journalistisch intervenierte … Anders als bei Sartre, der mir auch sehr früh begegnet ist und dessen Texte philosophisch eine große Rolle für mich gespielt haben, hat Camus noch etwas, was mich sehr rührt. Bei Camus hatte ich immer den Eindruck, dass er nicht ganz dazugehörte, dass er nicht ganz hineinpasste, dass er immer ein bisschen außerhalb von allen Gruppen stand, denen er angehörte. Diese Gleichzeitigkeit von großem politischem, humanistischem, publizistischem Engagement und dieses Außenvorstehen ist etwas, was mich bei Camus wahnsinnig berührt. Er blieb auch immer durchlässig für Korrekturen und überprüfte immer wieder seinen politischen Kontext.
Sie erwähnen, dass Camus ein sehr vielseitiger Autor war. Wie greifen Sie in Ihrem Schreiben auf unterschiedliche Textformen zurück? Gibt es ein Genre, das Sie für besonders geeignet halten, um darin „engagierte Literatur“ zu schreiben?
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