Aus Versehen verzeihen
Manchmal gelingt das Verzeihen. Anstatt schweres Leid zu sühnen, wird auf Vergeltung verzichtet. Unserer Kolumnistin Millay Hyatt ist dieser Verzicht einfach unterlaufen – und sie fragt sich: Habe ich wirklich verziehen?
Mir hat jemand, der mir sehr nahestand, einen großen Schaden zugefügt. Das schädigende Verhalten hatte Dauer und es hatte System. Und es ging mit Täuschung einher: Ich habe erst, als es vorbei war, davon erfahren. Ich musste mich daraufhin in mühsamer Arbeit wieder neu zusammenbauen.
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Susanne Boshammer: „Manchmal ist es besser, nicht zu verzeihen“
Die gesellschaftlichen Diskurse sind von einer Stimmung der Unversöhnlichkeit geprägt, psychologische Ratgeber empfehlen das Verzeihen hingegen als Allheilmittel gegen inneren Groll und Verbitterung. Doch: Was bedeutet Verzeihen eigentlich? Und welche Gründe können dagegen sprechen? Im Interview nimmt die Philosophin Susanne Boshammer eine Schärfung des Begriffs vor. Ihr Buch Die zweite Chance: Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten (2020) ist bei Rowohlt erschienen.

Mann im Haushalt
Getrennt lebende Eltern bilden mit ihren Kindern eine spezielle Familienform. So auch bei unserer neuen Kolumnistin Millay Hyatt, die sich fragt: Kann ich die Illusionen meines Sohnes ausreichend schützen?

Verzeihen - Gibt es einen Neuanfang?
Wo Menschen handeln, entsteht Schuld. Und manchmal wiegt sie so schwer, dass kein Heil mehr möglich scheint. Was, wenn eine Schuld nie beglichen werden kann? Wie sich befreien aus der Fixierung auf etwas, das sich nicht mehr ändern lässt? Wer sich diese Fragen stellt, ist bereits in jenen Möglichkeitsraum eingetreten, den die Philosophie eröffnet. Das Verzeihen ist der Weg, das Gewesene zu verwandeln und neu zu beginnen: Darin waren sich Denkerinnen und Denker wie Friedrich Nietzsche, Hannah Arendt und Paul Ricœur einig. Aber wie wäre er zu beschreiten, dieser Weg? Wo liegt die Grenze des Verzeihbaren? Und was wird aus dem berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit? Ein Dossier mit Impulsen für die Zurückgewinnung der Zukunft.
Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Was bedeutet es zu verzeihen?
Ungerechtigkeiten gehören zum Alltag – doch wie geht man mit ihnen um? Eine Möglichkeit: verzeihen. Aber was steckt eigentlich dahinter?

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Wer ist mein wahres Selbst?
Kennen Sie auch solche Abende? Erschöpft sinken Sie, vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, aufs Sofa. Sie kommen gerade von einem Empfang, viele Kollegen waren da, Geschäftspartner, Sie haben stundenlang geredet und kamen sich dabei vor wie ein Schauspieler, der nicht in seine Rolle findet. All diese Blicke. All diese Erwartungen. All diese Menschen, die etwas in Ihnen sehen, das Sie gar nicht sind, und Sie nötigen, sich zu verstellen … Wann, so fragen Sie sich, war ich heute eigentlich ich? Ich – dieses kleine Wort klingt in Ihren Ohren auf einmal so seltsam, dass Sie sich unwillkürlich in den Arm kneifen. Ich – wer ist das? Habe ich überhaupt so etwas wie ein wahres Selbst? Wüsste ich dann nicht zumindest jetzt, in der Stille des Abends, etwas Sinnvolles mit mir anzufangen?
Nachlässigkeit wagen
Meins oder deins? Besitzverhältnisse sind uns meistens sehr wichtig. Doch könnte ein Umdenken die Chance für ein freieres Dasein bergen, meint unsere Kolumnistin Millay Hyatt.
