Corine Pelluchon: „Wenn wir das Gesicht des Anderen wahrnehmen, nehmen wir seine Sterblichkeit und seinen Hunger wahr“
Die unendliche Verantwortung für den Anderen steht im Zentrum der Philosophie von Emmanuel Levinas. Angesichts einer liberalen Betonung der Freiheit tut es not, diese Inanspruchnahme durch den Anderen in den Blick zu nehmen. Ein Gespräch mit Corine Pelluchon über die Grenzen der eigenen Souveränität, Pflichten gegenüber Tieren und einen erstarkenden Rechtsextremismus.
Frau Pelluchon, der Philosoph Emmanuel Levinas gehört zu den rätselhaftesten Denkern des 20. Jahrhunderts. Warum sollten wir uns heute – 30 Jahre nach seinem Tod – die Mühe machen, uns auf sein Denken einzulassen?
Levinas hat das Klima philosophischen Denkens verändert, indem er die Verantwortung für den Anderen in das Zentrum unserer Identität gestellt hat. Diese Verantwortung speist sich aus einem Verständnis für die passiven Eigenschaften unserer Existenz als körperliche Wesen: Leid, Hunger, Erschöpfung, Tod, aber auch Genuss. Zeitgleich reduziert sein Denken uns nicht auf unsere Körperlichkeit, wir bleiben auch ein Geschöpf der Freiheit. Es handelt sich jedoch um eine Freiheit, die durch die Verantwortung für den Anderen transformiert wird. Levinas erinnert uns auch in Zeiten wie diesen daran, in denen Liberalismus oft als Individualismus oder Egoismus erscheint und in Faschismus kippen kann.
Bevor wir in die Tiefen seines Denkens einsteigen, möchte ich Sie genereller fragen: Wer war Emmanuel Levinas?
Levinas war einer der herausragendsten Denker des vergangenen Jahrhunderts, dessen Erkenntnisse einen Einfluss haben können, der über die Grenzen der Philosophie hinausgeht – von der Medizin bis zur Pflege, von ökologischen Debatten bis zu unserem Umgang mit politischer Radikalisierung. Dabei stand er im Vergleich zu Denkern wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Jacques Derrida zeitlebens eher in der zweiten Reihe.
1906 kam Levinas im russisch beherrschten Litauen zur Welt, als Kind einer jüdischen Familie. In was für einem Milieu ist er aufgewachsen?
Es war ein sehr gebildetes Milieu, in dem man Jiddisch, Russisch und etwas Deutsch sprach. Eigentlich wollte Levinas in Deutschland studieren, ging dann aber nach Straßburg und erlangte etwas später die französische Staatsbürgerschaft.
Welche Denker haben ihn in dieser Zeit besonders inspiriert?
Er begeisterte sich sehr für Edmund Husserl, den Begründer der Phänomenologie, die ihn zeitlebens prägen sollte. An der ersten französischen Übersetzung von Husserls Cartesianischen Meditationen hat Levinas mitgearbeitet. Seine zweite große Inspiration war Husserls einstiger Schüler Martin Heidegger.
Was begeisterte ihn so sehr an diesen Denkern?
Er greift Husserls Überlegungen zum Anderen auf, dessen Transzendenz er betonte. Levinas geht jedoch noch weiter: Der Andere ist nicht nur ein Alter Ego, er ist das, was ich nicht bin. Die Beziehung zum Anderen ist keine Beziehung der Erkenntnis, sondern eine ethische: Es ist eine Begegnung, die mich erschüttert. Ich kann ihn nicht konstituieren, weil ich ihn nie vollständig begreifen kann. Doch er verändert darüber hinaus auch meine Beziehung zu mir selbst.
Das müssen Sie erklären.
Der Andere setzt meiner Fähigkeit, ihn zu erkennen, aber auch, ihn zu beherrschen, Grenzen. Er steht mir gegenüber als jemand, der mich verpflichtet. Er beendet meine absolute Souveränität und stellt mich in Frage. Der Andere fordert mich auf, ihn nicht in Not oder Armut allein zu lassen.
Wenn Levinas von Ethik spricht, so schreiben Sie in Ihrem Buch Levinas verstehen, habe dies nichts mit dem zu tun, was man darunter für gewöhnlich versteht. Welches Verständnis von Ethik hatte Levinas?
Seiner Überzeugung nach liegt der Ursprung der Ethik nicht in der Reflexion einer reinen Vernunft, sondern im Gewahrwerden des Anderen als eines Anderen, in der Anerkenntnis seiner „Exteriorität“. Der Andere setzt mir Grenzen, seine bloße Existenz appelliert an mich, ihn nicht zu töten, sondern ihm einen Platz einzuräumen in dieser Welt, in der ich nicht allein bin.
Bei der Erfahrung des Anderen spielt dessen visage eine entscheidende Rolle, das mit „Gesicht“ oder – etwas biblischer – mit „Antlitz“ übersetzt wird. Welche Bedeutung hat dieser Begriff in Levinas‘ Philosophie?
Für Levinas ist Ethik keine Ansammlung von Pflichten, sondern eine Störung. Wenn wir das Gesicht des Anderen wahrnehmen, nehmen wir seine Sterblichkeit und seinen Hunger wahr. Verantwortung beginnt mit diesem Ruf des Anderen. Aber sie verändert unsere Identität von innen heraus. Die Begegnung mit dem Anderen beunruhigt uns, weil wir seinen Widerstand gegen unseren Versuch wahrnehmen, ihn auf eine Sache zu reduzieren oder sogar zu töten. Denn Mord ist nach Levinas sowohl eine Versuchung als auch eine Unmöglichkeit. Der Andere ist derjenige, den ich schützen muss. Zugleich ist er derjenige, den ich töten oder zum Schweigen bringen möchte, weil er die Illusion meiner Allmacht beendet.
Das klingt, als wäre das Antlitz vor allem eine Erfahrung der Begrenzung. Dabei schreibt Levinas doch auch, im Gesicht des Anderen würde sich die Unendlichkeit ausdrücken.
Im ersten Moment tritt mir das Gesicht des Anderen als ein Individuum mit spezifischen Bedürfnissen entgegen. Auf einer zweiten Ebene erkenne ich darin aber etwas Universales und Übergeordnetes: die Gesamtheit der Menschen. Auf dieser übergeordneten Ebene, auf der sich die zwischenmenschliche Ethik mit dem Prinzip der Gerechtigkeit verbindet, verortet Levinas den Begriff des Dritten.
Und dieser Dritte schwebt über allem wie ein Gott?
Levinas spricht hier nicht von Gott, aber vom Göttlichen, dessen Spur sich mir offenbart, wenn ich mich um die Bedürfnisse der Anderen sorge. Diese Sorge geht über die bloße Unterstützung eines bedürftigen Du hinaus. Sie erfüllt uns mit einer unendlichen Verantwortung. In Jenseits des Seins geht Levinas von der Verantwortung zur „Selbstvertretung“ über: Ich bin nicht nur für den Anderen verantwortlich, ich bin sogar für die Verantwortung des Anderen verantwortlich. Das heißt, die Fehler anderer lasten auf meiner Unschuld. Das ist eine völlige Umkehrung der Subjektivität. Man kann nicht mehr zu sich selbst zurückkehren. Ich glaube, das verstanden zu haben, als ich Veganerin geworden bin.
Was genau erkannten Sie als Veganerin?
Die Tatsache, dass jeden Tag weltweit Hunderte Millionen Tiere getötet und unzählige weitere gewaltsam ausgebeutet werden, erschüttert mich auf zweifache Weise. Ich fühle mich verantwortlich für die Tiere. Aber ich bin auch besorgt darüber, dass es Menschen sind, die dieses Leid verursachen. Man kann also verantwortlich sein, ohne schuldig zu sein.
Nach Levinas liegt der Ursprung solcher ethisch-transzendenten Erfahrung im Gesicht des Anderen. Kann es auch das Gesicht eines Schweins, einer Kuh oder einer Henne sein?
Da bin ich vorsichtig. Die Tiere sind das Objekt unserer Verantwortung. Aber sind sie auch für uns verantwortlich? Vermutlich nicht, daher liegt hier ein anderes Verhältnis vor. Jacques Derrida, ein Freund und Schüler Levinas‘, zeigte sich zutiefst enttäuscht davon, dass Levinas als der große Philosoph der Verantwortung und Körperlichkeit das Leid der Tiere nie zum Thema gemacht hatte. Dabei lässt sich auch mit Levinas‘ Philosophie sagen: Das, was wir den Tieren antun, diesen Lebewesen, die verletzlich sind wie wir, enthumanisiert uns und offenbart, wer wir sind. Es gibt den Ruf des Anderen, aber es gibt auch den Ruf des Tieres.
Sie hatten bereits über den Einfluss Edmund Husserls gesprochen. Was lernte Levinas von Martin Heidegger, seiner zweiten großen Inspirationsquelle?
Levinas berichtet, dass Heidegger ihm dafür die Augen geöffnet habe, dass Sein ein Verb ist, dass es mit unseren Handlungen, den pragmata, unauflöslich verbunden ist. Damit meint er, dass wir in der Welt handeln, bevor wir sie kennenlernen und verstehen. Unsere Existenzweisen sind der Ausgangspunkt dafür, zu den ursprünglichen Schichten des Erlebten zu gelangen. Levinas ist jedoch der Ansicht, dass die wahrnehmbare Welt, wie sie sich unseren Sinnen darstellt, ursprünglicher ist. Er wirft Heidegger vor, die Passivität des Lebendigen übersehen und Freiheit vor allem als Projekt gedacht zu haben. Heideggers Dasein ist niemals hungrig.
Das müssen Sie erklären.
Heidegger verkennt, dass ich nicht primär lebe, um etwas zu tun, sondern dass ich lebe, um zu leben. „Wir atmen, um zu atmen, essen und trinken, um zu essen und zu trinken“, schreibt Levinas in Totalität und Unendlichkeit. Damit betont er die Bedeutung des Genusses, der seinen Zweck in sich selbst hat. Wenn der Zugang zum Genuss verboten ist, dann sind Lebensmittel nur noch Treibstoffe, die das Überleben ermöglichen. Die Tatsache, dass das Leben geliebt und genossen wird, wird von Heidegger übersehen, der den Schwerpunkt auf unsere existenzielle Verlassenheit legt.
In den 1930ern gibt Levinas Unterricht an einer jüdischen Schule in Paris, während Heidegger in Freiburg für die Nationalsozialisten Partei ergreift. Wie reagiert Levinas darauf?
Bereits 1934 verfasst er Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus, eine kleine Abhandlung, in der er zu verstehen versucht, wieso uns die philosophische Tradition, die den hohen Wert der Freiheit betonte, nicht vor dem Monstrum des Nationalsozialismus bewahren konnte.
In diesem Zusammenhang spricht er vom „Grundgefühl des gefesselten Seins“. Was meint er damit?
Der Hitlerismus ist eine biologistische Philosophie. Er betrachtet den Menschen nicht als ein Antlitz, sondern bewertet ihn anhand seiner biologischen Erbanlagen. Übereinstimmend mit der Überzeugung Heideggers geht der Hitlerismus außerdem davon aus, dass das Schicksal des Menschen – trotz seiner individuellen Freiheit – unweigerlich verwurzelt sei im Schicksal seines Volkes. Diese beiden Fesseln sind gemeint, die biologistische und die völkische. Sie zeigen, wie zutiefst antiaufklärerisch der Hitlerismus war, dem Levinas‘ Familie fast vollständig zum Opfer fiel: Seine Eltern, Großeltern und Brüder werden von den Nazis ermordet. Seine Frau überlebt in verschiedenen Verstecken, er selbst als französischer Kriegsgefangener in der Nähe von Hannover.
Hilft uns Levinas auch dabei, den Aufschwung des heutigen Rechtsextremismus zu erklären?
Ja, er ist so aktuell wie lange nicht. Das gefesselte Sein zeigt sich an beiden politischen Rändern, sowohl im Rassismus der erstarkenden Rechtsextremen als auch in der Überzeugung einiger Postmoderner, die jegliche Emanzipation für gescheitert halten und die Identität von Menschen über ihre ethnischen Merkmale oder Besonderheiten definieren. Beide Seiten sind natürlich nicht gleichzusetzen, aber sie beide verkennen, dass wir uns von unserem Ursprung lösen können.
Diese Loslösung bezeichnet Levinas als „Evasion“. Was ist darunter zu verstehen?
Während Heidegger eine „Rückkehr zum Sein“ postuliert und den Gedanken der Verwurzelung im kollektiven Dasein einführt, betont Levinas das Bedürfnis nach l’évasion, also „Ausbruch“ aus dem Sein. Es meint den Ausstieg aus jedem Denken des Ursprungs – wir würden es Emanzipation nennen. In dieser Evasion, diesem Ausbruch, erkennen wir die Einzigartigkeit jedes Menschen. Er ist einzigartig und sich doch bewusst, der Menschheit anzugehören, einer Gemeinschaft verletzlicher Wesen, für die er Sorge trägt. Dieses Gleichgewicht von Freiheit und Verantwortung bildet den humanistischen Kern der Philosophie Levinas‘.
Ihr Buch Levinas verstehen. Ein Philosoph für unsere Zeit basiert auf einem Seminar, das Sie unter anderem für Krankenpfleger und Palliativmediziner, Geriater, Kinderärzte und Psychiater veranstaltet haben. Was macht Levinas für diese Berufe so relevant?
Pflegern und Medizinern ist die Verwundbarkeit, die uns alle eint, zutiefst bewusst. In den Augen des Anderen erkennen wir seine Sterblichkeit und empfinden zugleich die Pflicht, ihn auf seinen letzten Weg zu begleiten, der trotzdem ein einsamer Weg bleibt. Vor allem auf der Palliativstation machen die Angestellten diese Erfahrungen alltäglich und die Philosophie Levinas‘ gibt ihnen eine Sprache, um diese Erlebnisse auf einer tieferen Ebene deuten zu können.
Levinas starb im Dezember 1995, kurz bevor Sie Ihr Philosophiestudium abschlossen. Haben Sie ihn jemals persönlich kennengelernt?
Nein, leider nicht. Levinas wurde für mich eine große Inspiration, aber während meines Studiums wurde er an der Universität nicht gelehrt.
Wie haben Sie seinen Tod damals erlebt?
Als Levinas starb, war er kein Star. Es wurde seiner gedacht, Derrida hielt eine berührende Abschiedsrede, doch in den Medien war er nie allgegenwärtig, auch nicht zu seinem Tod. Levinas war kein toutologue, wie wir jene Leute nennen, die sich zu sämtlichen Themen eine Meinung bilden und sie in den Talk-Shows und Zeitschriften kundtun. Diese Diskretion gefällt mir sehr gut. Denn wahre Philosophie, so scheint mir, spricht nicht du monde sondern au monde – nicht über die Welt, sondern sie wendet sich an die Welt und die Menschen. Darin sollte uns Levinas ein Vorbild sein. •
Corine Pelluchon ist Professorin für politische Philosophie und angewandte Ethik an der Universität Gustave Eiffel in Frankreich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Bio-, Medizin- und Tierethik, Demokratietheorie sowie die Werke von Leo Strauss und Emmanuel Levinas. Sie ist Ritter der französischen Ehrenlegion, erhielt den Günther Anders-Preis für kritisches Denken 2020 sowie den Dr. Leopold Lucas-Preis 2025. Zuletzt erschien „Levinas verstehen. Ein Philosoph für unsere Zeit“ (Alber 2025).
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