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Bild: © Kirill Golovchenko

Reportage

Der Schrebergarten – eine deutsche Utopie

Svenja Flasspoehler veröffentlicht am 01 Oktober 2016 15 min

Der Schrebergarten ist die perfekte Symbiose zweier als ausnehmend deutsch geltender Sehnsüchte: Natur und Ordnung. Doch welche Ideologie steckt hinter den akkuraten Hecken? Ein Ausflug in die traditionsreiche Berliner Kleingartenanlage „Sonnenschein“.

 

Wochenende. Mit einem Seufzer der Erleichterung trete ich durch die Pforte unserer Kleingartenanlage „Sonnenschein“ tief im Osten Berlins. „Naherholungsgebiet“ steht auf einer Steintafel. Als hätte dieses Wort einen Abwehrzauber, verstummt der Lärm der Großstadt sofort. Sogar die Kinder sind plötzlich ganz still. Von meinem Arm aus beobachtet unser Sohn interessiert eine Amsel, die auf dem frisch gemähten Rasen von Parzelle 14 nach einem Wurm pickt. Seine große Schwester reitet auf ihrem imaginären Pferd Flöckchen voraus zu Parzelle 18, wo die gleichaltrige Chantal spielt. 1926 wurde die Anlage gegründet, die meisten Häuser stammen aus dieser Zeit, geräumige Holzhütten mit Küche, Schlafzimmer, Wintergarten, manchmal sogar Öfen. Mein Mann schiebt, leise vor sich hin pfeifend, den voll bepackten Kinderwagen, darin Nudeln, Windeln, Bier, Gelierzucker, was man so braucht für ein Wochenende im Garten.

Vor uns flimmert der Hauptweg in der Sommerhitze, zu beiden Seiten ordentlich geharkt, rechts von uns liegt der Festplatz, dahinter geht es links ab in die Stadionstraße, gleich sind wir da. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Hollywoodschaukel in unserer kühlen, efeubewachsenen Laube, sehe mich mit unserem Baby einen Mittagsschlaf halten, sehr tief und sehr lang, aber das hat natürlich nichts mit der Realität zu tun, denn was ich vor allem sehe, als wir um die Ecke biegen, ist das Unkraut vor unserem Gartenzaun.

Eine halbe Stunde später, der Sohn schlummert in der Schaukel, befreie ich das Kartoffelbeet vom giftigen Goldregen, der sich in dieser Saison in der gesamten Anlage ausbreitet. Mein Mann sammelt Fallobst. Zur Ruhe kommen werden wir erst am Abend, wenn die Brombeeren und Äpfel geerntet, die Beete gejätet sind. Ach, und steht nicht auch noch ein kollektiver, verpflichtender „Arbeitseinsatz“ morgen früh auf dem Festplatz an? Es gibt Freunde, die halten uns für schlichtweg verrückt. Freunde, die mit ihren Kindern am Wochenende einen Ausflug machen, Eis essen, ins Museum gehen, anstatt sich einem Bundeskleingartengesetz zu unterwerfen, dem zufolge ein Drittel der Fläche „zur nichterwerbsmäßigen gärtnerischen Nutzung, insbesondere zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf“ dienen muss. Freunde, für die Schrebergärten nicht nur der Inbegriff der Spießigkeit sind, sondern vor allem eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – ja, Folterinstrumente. Natürlich verweisen mein Mann und ich in solchen Momenten auf die unzähligen Vorteile unseres Gartens: die glücklichen Kinder, die Ruhe, das Bier auf der Bank hinterm Haus am Abend, die selbst gemachte Marmelade, den benachbarten Orankesee, und all das für eine verschwindend geringe Pachtgebühr: Die Entscheidung für diesen Garten war eine der besten unseres Lebens. Im Grunde aber wissen wir, dass im Urteil unserer Freunde viel mehr Wahrheit steckt, als diese selbst ahnen. Moritz Schreber, Namensgeber des Schrebergartens, war Begründer der sogenannten Schwarzen Pädagogik. Ein Verfechter von Zucht und Ordnung, Drill und Gehorsam und damit ideologischer Wegbereiter des Faschismus. Schrebers ältester Sohn brachte sich um, der jüngere wurde als Paranoiker einer der berühmtesten Fälle Sigmund Freuds. Die Frage, warum wir Kleingärtner geworden sind, ist also mehr als berechtigt. Doch beginnen wir am besten ganz von vorn.

 

Die Wurzeln des Kleingartens

 

Der Kleingarten hat im Grunde zwei Wurzeln. Sein Vorläufer war der Armengarten, eine Errungenschaft des frühen 19. Jahrhunderts und Reaktion auf die zunehmende Armut in den anwachsenden Städten. Der Bevölkerung sollte durch die Gärten Selbstversorgung ermöglicht werden, anstatt auf finanzielle Unterstützung angewiesen zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfüllten die Gärten abermals diese Funktion, auch lebten viele Menschen ganzjährig in ihren Lauben. Unsere Vorpächter zum Beispiel verbrachten Anfang der 1960er-Jahre ein Jahr mit ihren zwei Kindern in unserem kleinen Holzhaus, weil es in Ostberlin zu jener Zeit zu wenige Wohnungen gab. Noch heute haben einige alte Ehepaare in unserer Kleingartenanlage ihren festen Wohnsitz, weil den Menschen damals lebenslanges Wohnrecht zugestanden wurde.

Die andere historische Linie des Kleingartens aber führt zu Schreber. Moritz Schreber war Arzt und Hochschullehrer in Leipzig. Gelebt hat er von 1808 bis 1861. Weil er Bewegung und Arbeit auch und gerade an der frischen Luft als pädagogisches Erziehungsmittel gepriesen hatte, benannte man 1865 einen Platz am Leipziger Johannapark nach dem verstorbenen Arzt: Auf dem „Schreberplatz“ ertüchtigte sich der Nachwuchs von Fabrikarbeitern spielend und turnend unter Aufsicht eines Erziehers. Der Lehrer Heinrich Karl Gesell wandelte diesen Spielplatz dann in Gärten um, bald kamen nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern, um die Äcker zu bestellen. Die Gärten wurden parzellisiert und umzäunt, der Schrebergarten war geboren. Vertieft man sich in Schrebers zahlreiche pädagogische Bücher, wird allerdings schnell klar, dass für den Arzt weit wichtiger als das Gärtnern etwas ganz anderes war: unermüdliche Optimierung.

„Ringe nach voller Herrschaft über dich selbst, über deine geistigen und leiblichen Schwächen und Mängel“, so rät Schreber gleich zu Beginn seines 1855 erschienenen Werkes Ärztliche Zimmergymnastik, „bleibe unermüdlich in dem Streben nach dieser wahren (inneren) Freiheit, nach Selbstveredelung.“ Und so anempfiehlt Schreber in seinem Büchlein allerlei gymnastische Übungen für den Alltag, um etwa der „Trägheit der Unterleibsfunktionen“ oder „krankhaften, schwächenden Pollutionen“ durch „Sägebewegungen“ oder „Zusammenschlagen der Arme“ entgegenzuwirken. Der Mensch muss gegen seine Lüste ankämpfen und unaufhörlich auf seine Perfektionierung hinwirken, der Müßiggang hingegen ist der Anfang aller Laster. So lässt sich die schrebersche „Lebenskunst“, wie er sie selbst nennt, zusammenfassen.

In Wahrheit ist diese Kunst eine Ideologie, die der Soziologe Max Weber – wie Schreber im protestantischen Preußen geboren – in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 1864 genau analysierte. Akribisch arbeitete Weber heraus, wie protestantische Lebensmaximen mit dem kapitalistischen Prinzip der Akkumulation zusammenhängen. Das wesentliche Verbindungsglied ist die Verherrlichung der Askese, ein griechisches Wort, das auf Deutsch Übung heißt, sowie der Kampf gegen die gotteslästerliche Faulheit, die auch Moritz Schreber nicht müde wird zu geißeln: „Die Bequemlichkeit ist die Mutter geistiger und körperlicher Schlaffheit, Weichlichkeit und Faulheit und wahre Fessel des Lebens. Sie wächst mit den Jahren und wird unüberwindbar. Eine grosse Wohltat ist es daher für Kinder, wenn sie von allen diesen lebensfeindlichen Schwächen, die sich so leicht und unmerklich einnisten, frei gehalten werden.“ So heißt es in Schrebers Buch Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmässige Förderung normaler Körperbildung, lebenstüchtiger Gesundheit und geistiger Veredelung und insbesondere durch möglichste Benutzung specieller Erziehungsmittel aus dem Jahre 1858. Die speziellen Erziehungsmittel dienten Schreber zur: Zucht. So wie ein Gärtner ein Gewächs züchtet, sollte nach Schreber widerstandsfähiger Nachwuchs gezüchtet werden. „Roh und unentwickelt tritt das Kind aus der Hand der Natur in die Welt hinein, aber reich begabt mit Keimen allseitiger Entwickelung. Diese Keime sind sowohl auf körperlicher wie geistiger Seite theils edle, welche aufwärts zur Vervollkommnung, theils unedle, lebensfeindliche, welche abwärts zur Mangelhaftigkeit und Vernichtung führen. Die edlen sind: die Keime der körperlichen und geistigen Gesundheit und Schönheit, die Keime des Lebens; die unedlen: die Keime der körperlichen und geistigen Krankheit und Entartung, die Keime des Todes. Die edlen Keime sollen durch den Kampf mit den unedlen sich kräftigen und entwickeln und möglichst frei von ihnen machen.“

 

„Willkommen im Menschenpark!“

 

Schreber, der Zuchtmeister und Anti-Rousseau. Mit seinem Konzept der „negativen Erziehung“ war der Aufklärer und Humanist Jean-Jacques im 18. Jahrhundert noch von der durch und durch guten Natur des Menschen ausgegangen. Diese Natur gelte es vor schlechten zivilisatorischen Einflüssen zu schützen, damit das Kind seine schönen Anlagen frei entfalte. Jede Form von Züchtigung – das heißt der „Zucht zum Zweck der geistigen und sittlichen Besserung“, wie es in Grimms Wörterbuch heißt – lehnte Rousseau kategorisch ab und forderte stattdessen, Kinder in der Natur aufwachsen zu lassen, fernab von der schädlichen, entfremdenden, deformierenden Stadt. Für Schreber hingegen ist klar: Das Kind ist nicht von Natur aus gut. Es trägt schlechte Keime in sich, die es abzutöten gilt. 

Nur durch gezielte Umformung und Auslese wird aus einem Kind ein edles Geschöpf. Das Schlechte muss ausgemerzt werden, das Gute gen Himmel streben wie eine kerzengerade Zuchttulpe. Genau zu diesem Zweck erfand Schreber zahlreiche Apparate: Schulterbänder gegen das Vorfallen der Schultern, Kopfhalter gegen das Vorfallen des Kopfes, Geradhalter gegen schiefes Sitzen, auch an einem Gerät zur Verhinderung der Masturbation hat er getüftelt „Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen wird der humanistische Horizont gesprengt, sofern der Humanismus niemals weiter denken kann und darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist läßt sich den Menschen vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden Mittel an“, schreibt Peter Sloterdijk in seinem Aufsatz Regeln für den Menschenpark und arbeitet die Differenz zum Züchter klar heraus: Der Humanist will die menschliche Materie bilden. Das Ziel des Züchtens hingegen ist es, sie „anthropotechnisch“ (Sloterdijk) zu verändern, weil das natürliche Material schlichtweg schlecht, mindestens verbesserungswürdig ist. An die Stelle des Zähmens tritt das Züchten, an die Stelle des bildungsbürgerlichen Lesens die biopolitische Auslese. Als wahrscheinlich darf gelten, dass Schreber, würde er heute leben, die pränatale Diagnostik und die mit ihr zusammenhängenden Möglichkeiten frühzeitiger Selektion befürwortet hätte. „Krankheit“ und „Entartung“ gilt es im Keim zu ersticken, damit das gesunde Gute wachse und gedeihe.

 

Zucht und Ordnung

 

Mit meiner erdigen Hand streiche ich über den Blondschopf unseres immer noch schlummernden Söhnchens. Ginge es nach Schreber, hätte ich unser Kind schon im zarten Alter von acht Monaten bei etwaigen Einschlafproblemen mit „wiederholten körperlich fühlbaren Ermahnungen“ konsequent bestrafen müssen: „Eine solche Procedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nöthig und – man ist Herr des Kindes für immer.“ Und für unsere achtjährige Tochter, die vermutlich gerade mit Chantal im Apfelbaum sitzt und ihr dreckige Witze erzählt, hält der Arzt folgenden Rat bereit: „Soll sich eine gute und feste Gewohnheit bilden, so muss darauf streng gehalten werden, dass die Kinder des Morgens nach dem Erwachen sofort sich erheben, nie wach oder im Halbschlafe liegen bleiben. Es ist dies noch aus einem anderen Grunde sehr wichtig, weil nämlich damit am meisten die Verführung zu einer unkeuschen Richtung der Gedanken verknüpft ist.“

Doch so schauderhaft ich diese Züchtigungsrhetorik finde und sosehr mich Schrebers Gehorsamsfaschismus anwidert, den Zuchtgedanken im genetischen Sinne kann ich nicht problemlos von mir weisen. Bei beiden Kindern haben wir – nach langen Diskussionen und vielen Gesprächen mit Freunden – eine Feindiagnostik vornehmen lassen, und wie froh waren wir, als alles in Ordnung war. Keine Fehlbildungen, keine auffällige Nackenfalte, nichts. Fragen aber stelle ich mir bis heute: Wohin führt uns die genetische Auslese? Würde ich meine Kinder genauso lieben, wenn sie Down-Kinder wären oder gar schwerstbehindert? Wie ließe sich je zweifelsfrei festlegen, welches Leben glücklich macht und welches nicht? Derlei ethische Zweifel kannte Schreber nicht. Der unedle Keim war aus seiner Sicht vom edlen klar zu unterscheiden. Die Grundlage von Schrebers Pädagogik und Menschenbild war, Menschen mit Pflanzen gleichzusetzen – so, wie es später auch die nationalsozialistischen Rassenideologen taten. „Kampf dem Unkraut“ war 1932 auf dem Titelblatt der satirischen Zeitschrift Die Brennessel zu lesen. Zu sehen ist ein Gärtner mit Hakenkreuz, der mit einer Sense Juden die Köpfe abtrennt.

Hieraus jedoch zu schlussfolgern, dass Unkrautjäten der Anfang des Faschismus sei, ist grundfalsch. Pflanzen sind keine Menschen. Ein Garten ist keine Gesellschaft. Das Problem liegt vielmehr darin, dass sich rechtes Gedankengut einer wie auch immer gearteten „Natur“ als Legitimation bedient, mithin naturalistisch argumentiert und infolgedessen zwangsläufig Gartenmetaphern zu propagandistischen Zwecken verwendet. Hat man diesen Sachverhalt einmal klargestellt, offenbart sich sogleich, worin der Reiz des Schrebergartens in unserem komplexen 21. Jahrhundert liegt. In einem Schrebergarten gibt es keine ethischen Dilemmata, keine falschen Übertragungen. Unkraut ist Unkraut. Definitionsmerkmal von Unkraut ist, dass es nicht gezielt angebaut wurde, also wächst, wo es nicht wachsen soll und deshalb als störend empfunden wird, gar anderen Pflanzen den Lebensraum raubt. Punkt. Der Schrebergarten ist, seiner Anlage nach, ein regelrechtes Utopia der Eindeutigkeit. Eine parzellisierte Welt der Klarheit, Übersichtlichkeit, Beherrschbarkeit. Ein Labsal in unserer zunehmend unübersichtlichen Zeit. Ich gebe es ganz offen zu: Die Ordnung unserer 300-Quadratmeter-Parzelle entspannt und beruhigt mich kolossal. Was für andere Menschen ein Schaumbad ist, ist für mich unser Kleingarten.

 

Kampf dem Giersch

 

Aber natürlich ist auch diese Ordnung ständig bedroht. Ihr größter Gegner ist der Giersch, der sich wieder einmal unter unserer Himbeerhecke ausbreitet. Mit Gummihandschuhen und einer Hacke bewaffnet nehme ich das wuchernde Kraut ins Visier, entschlossen, es mit der Wurzel auszurupfen. Aber das ist gar nicht so einfach. Genau genommen ist es unmöglich. Manchmal kommt, wenn man ganz viel Glück hat, ein länglicher unterirdischer Faden mit, aber meistens erwischt man nur Blatt und Stängel, was naturgemäß dazu führt, dass innerhalb kürzester Zeit ein neues Pflänzchen sprießt. Giersch entspringt nämlich keiner herkömmlichen Wurzel, sondern einem stark wuchernden Rhizom, einem weit verzweigten Sprossenachsensystem, das sich dem gezielten Zugriff entzieht. Unser Giersch-Rhizom ist, wie wir vermuten, gigantisch. Zupft man an einer Stelle, schießt das Unkraut alsbald an einer anderen hervor. Seine Verbreitung ist so uferlos wie seine regionalen Bezeichnungen, die von Ackerholler (Kärnten) bis zu Zipperlikraut (Bern) reichen.

Nun gibt es Philosophen, die das Rhizom gerade aufgrund seines unbändigen Wucherns tief verehren. „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter“, schrieben Gilles Deleuze und Félix Guattari 1977 und feierten das Rhizom als Sinnbild eines verzweigten, anarchischen, subversiven, befreienden Antisystems. Die Wurzel hingegen stehe für „ein trauriges Bild des Denkens“, totalitär und tödlich sei es in seiner Fixiertheit. Das Rhizom wird damit zum Gegenentwurf zu den althergebrachten, enzyklopädischen Wissens- und Ordnungsmodellen, in denen jedes Element unverrückbar an einer ihm zugewiesenen Stelle bleibt. So kann gemäß klassischer Taxonomien jedes Tier und jede Pflanze nur einer Art angehören, ein Mensch nur Mann oder Frau sein. Fest verwurzelt, auf immer und ewig. In einem Rhizom aber stehen die Elemente in Beziehung zueinander, klare Zuordnungen und Gegensätze werden unterlaufen, Identitäten lösen sich auf, neue Verbindungen werden geknüpft.

Auch ich bin entschieden dafür, Identität offener, freier zu denken. Ohne fixierende Verankerung in einer wie auch immer gearteten Seinswurzel, die Geschlechter, Rassen, Ethnien in ihren Entfaltungsmöglichkeiten einschränken, gar unterdrücken und ihnen einen festen, vermeintlich natürlichen Platz in der gesellschaftlichen Struktur respektive auf unserem Globus zuweisen. Aber eine Gesellschaft ist etwas anderes als ein Garten. Ein Garten, liebe Herren Deleuze und Guattari, braucht ein gewisses Maß an Struktur. Die Struktur ist es, die einen Garten überhaupt erst zu einem Garten macht. Hier die Rosen, dort der Flieder. Ein Beet wird zu einem Beet, indem man Grenzen zieht. Ein Garten, in dem alles wild durcheinanderwuchert, ohne jeden erkennbaren menschlichen Eingriff, ist kein Garten.

Tatsächlich begehen die beiden Rhizom-Verehrer im Grunde denselben Fehler wie so manch ein Kartoffeldeutscher vom rechten Rand: Sie nehmen die Natur als Vorbild, ziehen sie als Ideal einer transgressiven Un-Ordnung an, leiten aus ihr eine Ethik ab. Wie gerne würde ich den beiden Philosophen den aus Japan importierten, rhizomatischen Staudenknöterich zeigen, eine sogenannte „invasive“ Pflanze, die es in Deutschland ursprünglich gar nicht gibt und die sich rasant rund um unseren Komposthaufen verbreitet. Ganze Betonplatten stemmt der Knöterich in die Höhe. Begrüßenswerte Ideale wie Multikulti sind in einem Garten nur bis zu einer bestimmten Grenze lebbar. Man kann eine Buschbohne nicht überzeugen, mit, sagen wir, Lauch auf engstem Raum zusammenzuleben. Manche Pflanzen vertragen sich nicht, entziehen sich gegenseitig die Nährstoffe, nehmen sich Licht, bedrängen sich mit Blättern und Früchten. Zwar gibt es sogenannte Mischkulturen, worunter man Gewächse versteht, die, wie es auf einer Internetseite heißt, „sich optimal ergänzen und den speziellen Bedingungen eines Standortes angepasst sind. Solche Pflanzen sind gute Nachbarn.“ Bohnenkraut, Erdbeeren, Gurken, Sellerie, Rote Bete und Pflücksalat toleriert eine Buschbohne nicht nur, sie zieht sogar Gewinn aus der unmittelbaren Nähe. Andere Gewächse aber „gehen ein und verkümmern, wenn sie nebeneinander wachsen sollen … Bei falscher Zusammenstellung kann eine Wuchshemmung entstehen.“ Klingt ein bisschen nach Frauke Petry, denke ich, als ich meine Rupfhandschuhe ausziehe, ist jedoch, was den Garten (und nur den Garten!) angeht, schlichtweg wahr.

 

„Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“

 

Anders als Pflanzen können Menschen sich vieles aussuchen. Wo, wie und mit wem sie leben, in welche Richtung sie sich entwickeln. Nur eines können auch wir nicht wählen: die Familie, in die wir hineingeboren werden. Das galt auch für den zweiten Sohn Moritz Schrebers, der 1842 zur Welt kam. Sein Name war Daniel Paul Schreber. 1877 nahm sich sein drei Jahre älterer Bruder das Leben. 1884, kurz nachdem der studierte Jurist ohne Erfolg als Nationalliberaler für den Reichstag kandidiert hatte, verbrachte er erstmalig einige Wochen in der Landesheilanstalt Sonnenstein. (Unsere Kleingartenanlage heißt „Sonnenschein“: Wie so oft ist es nur eine Winzigkeit, die Normalität und Wahnsinn trennt.) 1893, er war gerade erst zum Präsidenten des Landgerichts Freiberg ernannt worden, erkrankte Schreber ein weiteres Mal. Seine psychotischen Wahnvorstellungen führten ihn nach einem Aufenthalt in der Universitätsklinik Leipzig erneut nach Sonnenstein, wo er von 1900 bis 1902 seine autobiografischen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken verfasste. „Es wird wenige Menschen geben, die in so strengen sittlichen Grundsätzen aufgewachsen sind wie ich und die sich ihr ganzes Leben hindurch, namentlich auch in geschlechtlicher Beziehung, eine diesen Grundsätzen entsprechende Zurückhaltung in dem Maße auferlegt haben, wie ich es von mir behaupten darf“, schreibt Schreber im Hinblick auf seinen Vater. Sigmund Freud las die „Denkwürdigkeiten“ mit größtem Interesse und verfasste auf dieser Grundlage – persönlich hat er Schreber nie getroffen – im Jahr 1911 seinen Aufsatz Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia.

Auch wenn Freud die lustfeindlichen Schriften von Moritz Schreber nicht explizit in seine Analyse einbezog, wird bei der Lektüre des Aufsatzes doch deutlich, welche Rolle Vater Schreber für die Erkrankung seines Sohnes spielte – bestand dessen paranoider Wahn doch darin, unablässig sexuelle Lust empfinden zu müssen. Und zwar als eine Frau. „Er halte sich für berufen, die Welt zu erlösen und ihr die verlorengegangene Seligkeit wiederzubringen“, so fasst Freud das Krankheitsbild zusammen. „Das könne er aber nur, wenn er sich zuvor aus einem Manne zu einem Weibe verwandelt habe.“ Nur als ein in „wollüstigen Empfindungen schwelgendes Weib“, heißt es bei Schreber, könne er die „göttlichen Strahlen“ empfangen. Durch und durch überzeugt war er, dass die Transformation längst begonnen habe, sein Körper enthalte bereits weibliche Nerven, einige Organe seien abgestorben, neue dafür gewachsen. Diese Fantasie, eine wollüstige Frau Gottes zu werden, deutet Freud nun nicht nur als verdrängte, passive Homosexualität, sondern auch als Auseinandersetzung mit dem Vater: Daniels strenger Erzeuger, der „Störer der vom Kinde gesuchten, meist autoerotischen Befriedigung“, wird zu einem Vatergott, der die Wollust nicht unterdrückt, sondern buchstäblich verlangt. „Im Ausgang des Schreberschen Wahnes feiert die infantile Sexualbestrebung einen großartigen Triumph; die Wollust wird gottesfürchtig, Gott selbst (der Vater) läßt nicht ab, sie von dem Kranken zu fordern.“ Wobei der Triumph nicht überbewertet werden sollte: 14 Jahre seines Lebens verbrachte Daniel Schreber in Nervenheilanstalten. Nach einer dritten schweren Erkrankung im Jahr 1907 wurde er in die Anstalt Dösen eingeliefert, wo er 1911 einsam verstarb.

 

Antimodell zur Lustkultur

 

Vor über einhundert Jahren litt Daniel Schreber unter der Lustfeindlichkeit nicht nur seines Vaters, sondern auch seiner Zeit. Im 21. Jahrhundert hat sich die Problematik regelrecht umgekehrt. Lust zu befriedigen (und damit natürlich immer neu zu wecken), ist das Hauptanliegen des heutigen Kapitalismus. Sex wird zum Konsum, Konsum zum Sex. Ein Klick, schon kommt das neue Sofa oder die geile Gabi aus Marzahn. Der Schrebergarten ist das Antimodell zur Lustkultur: Hier gibt es keine Befriedigung auf Knopfdruck. Die Dinge müssen mit Mühe bearbeitet werden, nach bester hegelianischer Knechtmanier. So führt Hegel im berühmten Herr-Knecht-Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes aus, dass nur der fleißige Knecht den Weg zum Weltgeist beschreitet. Der Knecht „hemmt seine Begierde“, setzt sich mit dem Gegenstand auseinander, bearbeitet ihn und vergegenständlicht ihn in seinem Werk. Der Herr dagegen, der die Dinge nur genießt – gewissermaßen ein Prototyp des heutigen Konsumenten – verliert sich in einer Endlosschleife der Lust und landet in einer Sackgasse. „Andere wollen nur genießen, ohne den Genuss sich auf irgendeine Weise durch den Gebrauch der Kräfte zu verdienen“: Nein, dieser Satz stammt nicht von Hegel, sondern von niemand anderem als Moritz Schreber.

Natürlich würden mein Mann und ich auch unseren Kindern gern den Wert gärtnerischer Produktionsprozesse nahebringen. Aber wir zwingen sie nicht. Wenn unsere Tochter uns lieber Weingummi kauend und mit ihrem Lieblingsbuch Lotta-Leben auf dem Schoß von der Liege aus beim Graben zuschaut oder mit Flöckchen durch die Anlage reitet: Bitte. Ihre Sache. Tatsächlich dient der Garten uns nicht als schrebersches „specielles Erziehungsmittel“. Er ist für uns noch nicht einmal ein Mittel „negativer Erziehung“ im Sinne Rousseaus, der natürlich bei genauerem Hinsehen auch aus kleinen Menschen gute Menschen machen wollte. Uns geht es ehrlich gesagt gar nicht um Erziehung. Schon gar nicht um Zucht. Gezüchtet, gezupft und zurechtgestutzt werden hier einzig und allein Sonnenblumen, Kirschbäume und Stockrosen. Unseren Kindern hingegen wollen wir Ruhe vor uns und uns Ruhe vor den Kindern gönnen. An die Stelle des Erziehens tritt in unserem Garten das Seinlassen. •

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