Der Staat als Partisan
Obwohl Russland kaum Macht besitzt, kann es die Welt in Angst versetzen – und am Ende gar zum Sehnsuchtsort werden, sobald der Klimawandel zuschlägt.
Das Eigenartigste am Ukrainekrieg ist vielleicht, dass er von einem Land geführt wird, das dazu eigentlich nicht in der Lage sein sollte. Russland ist ein Zwerg – es hat weniger Einwohner als Bangladesch, eine Wirtschaftskraft, die mit der spanischen vergleichbar ist, ist weder Finanzmacht noch Technologiezentrum oder Traumregion, besitzt demnach kaum Soft Power. Ein Gebilde also, das geopolitisch keine Rolle spielen dürfte, rückt ins Zentrum des Weltordnungskampfes und könnte einen Flächenbrand oder das Ende der Welt auslösen.
Früher musste man eine große Macht sein, sich anstrengen und etwas können, um geopolitisch mitmischen zu dürfen. Das galt auch für die Sowjetunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Einwohner als die USA, beinahe halb so viele wie China hatte, technologisch mithalten konnte und die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt besaß. Heute leben in den USA doppelt, in EU-Europa dreimal, in China zehnmal so viele Menschen, die Russland wirtschaftlich und technologisch überrundet haben. Eine Idee, die weltweit von einem besseren Leben träumen lässt – etwa den Kommunismus – besitzt Russland auch nicht. Es hat nur sich selbst, sein Gas und seine Raketen.
Eine Landschaft mit Raketen
Dennoch reicht das, um die Weltordnung durcheinanderzuwirbeln. Niemand traut sich, den Rabauken zurechtzuweisen, weil er neben Atomwaffen eine gigantische Kriegsmaschine besitzt, die beinahe von allein läuft. Gefüttert wird sie mit Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport. Natur und Technik haben sich zu einem Mechanismus verschaltet, der den menschlichen Eingriff kaum noch braucht. Russland, könnte man in Abwandlung eines Helmut-Schmidt-Bonmots sagen, ist eine Landschaft mit Raketen, ein Kommunikationsfeld zweier Naturen (der natürlichen und der (kriegs-)technologischen), aus dem der Mensch beinahe verschwunden ist.
Das war im 20. Jahrhundert noch anders, als möglichst viele Menschen möglichst intensiv für eine Sache eingespannt werden mussten, um Macht zu erlangen. Höhepunkt war der Totalitarismus, der die Massen dirigierte, aber auch der Liberalismus beherrschte entsprechende Techniken. Moderne Geopolitik ist die Geschichte wachsender Massenmobilisierung, seit der Merkantilismus auf eine Verbindung von Demografie, Prosperität und Wehrhaftigkeit setzte, um die Position des Landes im Weltsystem zu optimieren.
Natürlich hat es auch kleine Länder gegeben, die eine Rolle gespielt haben – Venedig im 15., Portugal im 15. und 16. oder die Niederlande im 17. Jahrhundert zum Beispiel. Jedoch waren sie weder militärisch in der Lage noch daran interessiert, eine Ordnung zu sprengen, von der sie profitierten. Ihre Macht beruhte auf kommerzieller oder technologischer Finesse – an irgendeiner Stelle waren sie moderner als die anderen. Das trifft auf Putins Russland nicht zu. Es ist ein alter, wilder Mann, in allen Belangen unterlegen und trotzdem ein Sicherheitsrisiko, ein ungenießbarer Brocken, den die Weltgeschichte eigentlich schon geschluckt hatte, und der ihr nun quälend im Magen liegt.
Der Staat als Partisan
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Kommentare
Erstaunlich, wie Moritz Rudolph - nach Art von Obama - Russland kurzerhand als geopolitisch unbedeutend verkennt.
Ich erspare mir die Aufzählung der geopolitisch bedeutsamen Daten und Dimensionen, die über den geopolitischen Status Russlands Auskunft geben.
Soft Power wird zwar weiter wichtig bleiben. Der Krieg in der Ukraine, das sollten die Kriege nach 1991 doch vor Augen, könnten aber die Erkenntnis befördern, dass militärische Fähigkeiten nicht etwa überflüssig geworden sind, dass atomare Rüstung wieder an Bedeutung gewinnt. Atomare Abschreckung und zugleich konventionelle militärische Fähigkeiten gewinnen an erschreckender Bedeutung.
Die These des Autors, Russland als Sehnsuchtsort des Anthropozäns, scheint doch angesichts aktueller Kriegseindrücke geradezu degoutant.
Will da jemand am aktuellen Framing drehen?