Eine Freundschaft im Geiste
Auch wenn Albert Camus mit Simone Weil nie zu Lebzeiten bekannt wurde, bewunderte und teilte er zentrale Gedanken der radikalen Philosophin. Ihr gemeinsames Plädoyer für Menschlichkeit und Mäßigung erscheint heute dringlicher denn je, meint Robert Zaretsky.
Am 9. Dezember 1957, kurz nach seiner Ankunft in Stockholm, wo er den Literatur-Nobelpreis entgegennehmen sollte, gab Albert Camus eine Pressekonferenz. Zum Schluss fragte ihn ein Journalist nach zeitgenössischen Autoren, mit denen er sich „seelenverwandt“ fühle. Camus zögerte. „Es gibt viele, denen ich mich nah fühle“, sagte er schließlich, doch er werde nur zwei nennen. Der erste war der Lyriker René Char, mit dem er eng befreundet war. Die zweite Simone Weil, die er nie getroffen hatte. Vielleicht in Reaktion auf das verblüffte Gesicht des Journalisten, fügte Camus hinzu: „Manchmal fühlt man sich einem toten Menschen ebenso nah wie einem lebenden.“
65 Jahre später bringen uns die jüngsten Ereignisse beiden noch näher, Camus und Weil. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat – ein Krieg, wie wir ihn nicht mehr für möglich hielten, ein Krieg, der unsere Gewissheiten erschüttert –, hat uns tief ins 20. Jahrhundert zurückgeworfen: in eine Zeit, als Albert Camus und Simone Weil sich nicht nur denkend, sondern auch politisch handelnd hervortaten. Ihre moralischen, existenziellen Antworten auf ihre Epoche können unsere derzeitige Finsternis vielleicht nicht aufhellen, sie aber zumindest, wie John Milton schrieb, besser sichtbar machen.
Kurz nach dem Krieg machte Camus mit Weil Bekanntschaft – nur in Gestalt ihrer Texte, sie war ja schon 1943 gestorben. Als Lektor bei Gallimard, wo in den Kriegsjahren auch seine eigenen Werke Der Fremde und Der Mythos des Sisyphos erschienen waren, entdeckte Camus Weils unveröffentlichte Manuskripte. Die mehreren Hundert Seiten, die sie hinterließ, waren für ihren letzten Arbeitgeber geschrieben, Charles de Gaulles Bewegung France libre, der sie sich Ende 1942 angeschlossen hatte. Schon im folgenden Frühjahr, wenige Monate vor ihrem Tod, hatte sie die Mitarbeit wieder aufgekündigt, überzeugt, dass weder de Gaulle noch sonst jemand ihre Texte gelesen hatte.
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