Haben wir verlernt, einsam zu sein?
Viele Menschen leiden an der Einsamkeit. Doch anstatt ihr auszuweichen, sollten wir sie vielleicht als Quelle der Selbsterfahrung entdecken.
Einsamkeit wird spätestens seit Beginn der Pandemie als die große Geißel der Gesellschaft im 21. Jahrhundert bezeichnet. Zuletzt hat die Ökonomin Noreena Hertz mit dem Essay Das Zeitalter der Einsamkeit eine bedrückende gesellschaftskritische Analyse über die Auswirkungen der Globalisierung auf Wirtschaft, Gesundheit und Politik in unserer Epoche verfasst. Für die englische Autorin steht fest, dass „die strukturellen Einsamkeitsauslöser sowohl in den Handlungsweisen des Staates als auch in denen von Einzelpersonen und Unternehmen sowie im technischen Fortschritt des 21. Jahrhunderts verankert [sind] – seien es unsere Handysucht, die Überwachung am Arbeitsplatz, die Gig-Economy oder unsere zunehmend kontaktlosen Erlebnisse.“
Das ist sicher nicht falsch, aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite des Problems konturiert sich in einem – schon von Odo Marquard 1983 in einem Radiobeitrag mit dem Titel Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit so genannten – „Verlust unserer Einsamkeitsfähigkeit“. Den Menschen des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts sind das existenziale Grundverständnis von Einsamkeit und die produktive Fähigkeit, einsam sein zu können und zu wollen, offenbar abhandengekommen. Einsamkeit ist – um mit Heidegger zu sprechen – eine existenziale Kategorie unseres Daseins; die Erfahrung der Einsamkeit begleitet uns von der Geburt bis zum Tod. Wir werden in diese Welt geworfen, ohne dass uns jemand um Erlaubnis fragen konnte, und wir müssen, ohne die Hilfe eines anderen, diese Welt alleine und einsam wieder verlassen – die einen früher, die anderen später. Wir können der Einsamkeit nicht entrinnen, sie ist ein zentraler Grundzug unserer Existenz.
Gute und schlechte Einsamkeit
Einsamkeit ist unter diesem Blickwinkel der wichtigste Rückzugs-, Schutz- und Erkenntnisraum des Individuums, in dem es zu sich selbst finden kann. Das „Erkenne dich selbst!“ des delphischen Orakels, diese zentrale Herausforderung des menschlichen Daseins, können wir nicht in der Gesellschaft, unter den Vielen, bewältigen, sondern nur in der Einsamkeit unserer Auseinandersetzung mit uns selbst. Daniel Schreiber bemerkt in seinem Essay Allein zu dieser Thematik: „Erst die Einsicht, dass wir trotz der geliebten Menschen in unserem Leben in einem grundlegenden Sinn allein sind, sorgt dafür, dass wir uns unser selbst bewusst werden. Ohne diese Einsicht können wir keine Verantwortung für uns und unser Leben übernehmen, keine gute Beziehung zu uns selbst aufbauen und uns wirklich um uns selbst kümmern.“
Der norwegische Philosoph Lars H. Svendsen unterscheidet in seiner Philosophie der Einsamkeit im Rückgriff auf Nietzsche eine schlechte und eine gute Einsamkeit. Die gute Einsamkeit wird dabei zu einer vertrauten Freundin des Menschen, welche, wie Georges Moustaki in seinem berühmten Chanson Ma Solitude singt, eine süße Gewohnheit („Une douce habitude“) sei, die nicht von seiner Seite weiche („Elle ne me quitte pas d'un pas“) und treu wie ein Schatten sei („Fidèle comme une ombre“). Und im Refrain heißt es: Nein, ich bin nie allein mit meiner Einsamkeit („Non, je ne suis jamais seul / Avec ma solitude“).
Von dieser positiven Einsamkeit, die uns auffängt, stärkt und in einem Akt der mentalen und emotionalen Selbstkalibrierung neue Selbstvergewisserung und Motivation für unseren Lebensvollzug schafft, muss die negative Einsamkeit unterschieden werden, die uns in Selbstzweifel, Ängste und Mutlosigkeit treibt. Und gerade die letztere scheint die meistdiskutierte Erscheinungsform in unserer Epoche zu sein, jedenfalls wenn man die gegenwärtigen Diskurse über die Einsamkeit studiert.
Übungen im Alleinsein
Dass diese Form der Einsamkeit uns heute so sehr zusetzt und zu einem offenbar globalen Problem geworden ist, hängt wesentlich auch damit zusammen, dass wir Einsamkeit nicht mehr als eine unverzichtbare Grundstimmung unseres Daseins begreifen und sie aus unserem Leben zu verdrängen suchen. Mit verheerenden Folgen, denn die Einsamkeit lässt sich nicht verdrängen; sie ist eine existenziale Größe, die umso stärker wird, je intensiver wir sie abzuschütteln suchen. Gleichzeitig haben wir verlernt, die Einsamkeit als eine positive Kraft zu nutzen. Wir begreifen sie heute vielfach nur als eine Bedrohung, hervorgerufen durch eine politische, gesellschaftliche und ökonomische Fehlentwicklung – das ist jedoch zu kurz gegriffen.
Was uns zunehmend fehlt, ist eine Lebenspraxis, in die wir die Einsamkeit einbinden; sie als Teil unseres Daseins akzeptieren und uns in ihrem produktiven Gebrauch üben. Die „Exerzitien der Einsamkeit“, welche die vorangegangenen Generationen beherrscht haben, müssen wir erst wieder mühsam erlernen und für unser Leben im 21. Jahrhundert einrichten. Die Vorstellung, dass uns die digitalen Zukunftstechnologien alle Probleme mit der Einsamkeit wegzaubern, ist naiv und selbstzerstörerisch. Das Gegenteil ist der Fall, wie Noreena Hertz mit Recht hervorhebt: Ihr intensiver Gebrauch führt zu einer „verringerte[n] direkte[n] Interaktion mit anderen Menschen“. Und diese Kommunikationsform begünstigt die Entstehung negativer Einsamkeit.
Natürlich, und darin kann man Hertz Recht geben, muss der Staat durch entsprechende Gesetze und Konzepte dafür sorgen, dass ein förderliches Klima geschaffen wird, in dem Menschen den Umgang mit einer positiven Einsamkeit lernen und zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebens machen können. Die Fürsorge des Staates allein wird aber nicht ausreichen, dieses Problem zu bewältigen. Wir müssen uns selbst um unsere Einsamkeit kümmern, sie ist unsere Lebensaufgabe in dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken. Vielleicht ist Weihnachten ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie wir mit unserer Einsamkeit in Zukunft umgehen wollen und welche positiven Kräfte in ihr schlummern, die unser Leben beflügeln könnten. •
Reinhard Wilczek ist Literaturwissenschaftler und Autor. Demnächst erscheint von ihm: Übungen der Einsamkeit. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, Nomos 2023.
Kommentare
Wir haben nicht verlernt einsam zu sein, wir werden nur durch Technologie und Pandemie in ein strukturelles Übermaß an Einsamkeit gedrängt. Selbstkalibrierung & co. ist definitiv ein wichtiger positiver Aspekt der Einsamkeit, aber ab einem gewissen Punkt bin ich bei Zizek, der sagt: "I don't believe in looking into yourself. If you do this, you just discover a lot of shit." Einsamkeit ist eine Frage des richtigen Maßes. Unseren Fokus sollten wir heute lieber darauf richten, wie wir mehr zusammen sein können.