Simon Critchley: „Wir sind zu Managern unserer Einsamkeit geworden“
Gemeinhin sind wir versucht, die dunkle Seite des Lebens auszublenden. Simon Critchley sieht genau hin. Beleuchtet Tod, Selbstzerstörung, Selbsthass in Zeiten von Instagram – und erklärt die Melancholie zum Anfang allen Denkens.
Philosophie Magazin: Herr Critchley, Platon und Aristoteles sind der Ansicht, dass die Philosophie mit dem Wunder des Staunens beginnt. Sie halten dagegen, die Philosophie beginne mit der Enttäuschung.
Simon Critchley: Vielen gefällt die Idee, dass die Philosophie mit dem Staunen anfängt. Ich finde aber nicht, dass die Welt so wundervoll ist. Die moderne Welt schon gar nicht. Und eben damit beginnt das Denken.
Welche persönlichen Enttäuschungen haben Sie zur Philosophie geführt?
Als ich aufwuchs, in den 1970ern, erlebte Großbritannien einen sozioökonomischen Kollaps. Das war einerseits enttäuschend, andererseits aber auch interessant, denn es machte vieles möglich. Ich war ein Punk, als Punk noch sehr nihilistisch war. Dann, mit 18 Jahren, hatte ich einen schweren Arbeitsunfall. Eine Folge war, dass vieles aus meinem Gedächtnis getilgt wurde. So aber entstand Platz für Neues. Rückblickend war der Unfall also eine Art Vorbedingung für eine Zeit des Lernens.
Die Verbindung zwischen Ihrem Leben und Denken scheint in einem melancholischen Grundgefühl zu liegen. George Steiner schrieb, es sei das Denken, das traurig mache. Stimmen Sie zu?
Diesen Gedanken finden Sie schon bei Aristoteles: Die Philosophie hat etwas Melancholisches in dem Sinn, dass sie eine Aktivität des Denkens ist und das Denken einen Rückzug aus der Welt erfordert. Somit ist Denken eine Art, auf Distanz zu gehen, was wiederum einer Art Traurigkeit oder Melancholie entspricht. In diesem inneren Raum können Sie beginnen, Dinge zusammenzubringen, die erst einmal nicht zusammengehören. Der Akt des Denkens geht also aus einer Art Traurigkeit hervor. In meinem Fall ist das keine lähmende Traurigkeit. Es ist eine distanzierte, entfremdete Stimmung.
Victor Hugo sagte, Melancholie sei die Freude am Traurigsein. Wie klingt das für Sie?
Sie ist eine süße, behagliche Traurigkeit. Wie in diesem wunderschönen portugiesischen Wort, das auch die Brasilianer viel verwenden: saudade – eine Melancholie, die ein Sehnen enthält und eine Art Genuss am Verlust. Diese Stimmung löst Reflexion aus, weil sie den Wunsch nach mehr, nach etwas anderem enthält.
Es scheint ein spezielles Wissen der Melancholiker zu geben. Ich denke da an Justine in Lars von Triers Melancholia. Sie ist in dem Film die Einzige, die spürt, dass das Ende der Welt bevorsteht. Ihr subjektives melancholisches Empfinden erweist sich als richtig.
Ganz und gar. Kirsten Dunst, die Justine spielt, begreift, dass es zu Ende geht, und die anderen ahnen nichts. Sie verbringen die Zeit, als ob nichts wäre, und dann … kommt das Ende. Und auch Hamlet ist so ein wissender Melancholiker – er erkennt als Einziger, dass sein Vater von Claudius getötet wurde, um Hamlets Mutter zu ehelichen und so an den Thron zu gelangen. Eine interessante Überlegung zu Bewusstsein und Melancholie findet sich bei Sigmund Freud, der Hamlet an verschiedenen Stellen seines Werkes erwähnt. In seinem Essay über den Narzissmus schreibt Freud von einer Spaltung im Inneren des Ichs. Das Ich ist bloß irgendein Ding, das existiert und ein neutrales Bewusstsein hat, aber hinzu kommt das Unbewusste: die eigentliche Kraft hinter dieser neutralen Einheit. Das Erlebnis einer Spaltung innerhalb des Ichs erzeugt einen Konflikt zwischen einem Selbst, das wir sind, und einem Selbst, das beobachtet, was wir sind – manche Philosophen würden es Selbstbewusstsein nennen. Und dieses Gespür für eine Spaltung, eine innere Distanz, eine Absonderung, ein von sich selbst getrenntes Ich, das ist die Melancholie.
Freud setzt die Melancholie an anderer Stelle der Trauer entgegen …
Freuds Aufsatz Trauer und Melancholie beginnt beim Phänomen der Trauer: Sie tritt ein, wenn die Liebe aus der Welt verschwindet – eine geliebte Person, ein Elternteil, ein Partner, wer auch immer. Jemand Besonderes ist gegangen, und Sie bleiben zurück mit dieser Abwesenheit und verspüren eine bodenlose Trauer. Wenn Sie Glück haben, wird diese tiefe Trauer nach einer gewissen Zeit zu heilen beginnen; das Ich kann sich wieder zusammenflicken und …
… darüber hinwegkommen.
Ja. Wenn das aber nicht geschieht, wird das Ich melancholisch. Während der Gegenstand der Trauer der geliebte Mensch ist, der nicht mehr lebt, wird zum Gegenstand der Melancholie das Ich selbst. Das Ich beobachtet sich, und damit beginnt der Teufelskreis von Selbstreflexion und Trübsal.
Der Gegenstand des Verlusts wird also von dem Ich einverleibt?
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