Hektor Haarkötter: „Im Notizzettel kommt unser Denken zu sich“
Von Niklas Luhmann über Ludwig Wittgenstein bis zu Leonardo da Vinci. Viele große Denker benutzten Notizzettel. Doch was macht dieses Stück Papier zu einer derart produktiven Geistesstütze? Ein Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter.
Herr Haarkötter, eine der Hauptthesen Ihres Buches Notizzettel lautet, dass anspruchsvolle Werke nur mithilfe von Notizzetteln entstehen können. Wie bringen uns diese kleinen Papierstücke ins Denken?
Als der Soziologe Niklas Luhmann einmal nach dem Geheimnis für seine unglaubliche Produktivität gefragt wurde, antwortete er, dass er ja nicht allein denke, sondern seinen Zettelkasten praktisch als zweites Gehirn nutze. Auch wenn wir nicht alle auf ein derart ausgeklügeltes System zurückgreifen, haben Zettel für uns genau diese Funktion: Sie sind eine Erweiterung unseres Denkapparats, die uns mit einem gewissen Abstand sowie aus einer anderen Perspektive auf Dinge blicken lassen. Dadurch veranschaulichen Notizzettel auch noch etwas anderes: Wir schreiben überhaupt nur, wenn wir Probleme zu lösen haben. Und manchmal sind diese Probleme zu komplex, um sie im Kopf zu lösen. Dann externalisieren wir sie und denken sozusagen schriftlich.
Wir schreiben, um Probleme zu lösen? Das müssen Sie erklären.
Es gibt einen sehr schönen Gedanken des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der besagt, dass sich einige Probleme allein durch den Umstand lösen lassen, dass sie als solche erkannt werden. Man kann sich zum Beispiel einen Menschen vorstellen, der sich in einer Stadt verlaufen hat und nicht weiß, wo er ist. Sobald er weiß, wo er sich nicht auskennt, kennt er sich ja aus. Notizzettel helfen uns auf eben diese Weise, indem sie uns Probleme erkennen, festnageln und so lösen lassen. Dass Wittgenstein ein veritabler Meister darin war, sich Dinge im wahrsten Sinne des Wortes vorzustellen, sie also vor sich hinzustellen und sie aus immer neuen Perspektiven zu betrachten, zeigt auch die Anekdote des Protokollanten des Wiener Kreises, Friedrich Waismann. Er sollte aus Sitzungen dieses Philosophenzirkels mit Wittgenstein ein Buch machen. Zu diesem Zweck traf er sich oft mit Wittgenstein, bis er irgendwann verzweifelt aufgab, weil der Philosoph seiner Meinung nach immer wieder über Themen sprach, als hätte er sie zum ersten Mal gedanklich bewegt. Ein Eindruck, der sicher zentral mit Wittgensteins intensiver Nutzung von Zetteln zu tun hatte. Zudem bringen uns Notizzettel auch ins Denken, indem sie uns Dinge vergessen lassen.
Dabei schreibt man doch eher auf, um zu erinnern.
Das könnte man im ersten Moment denken, allerdings schreiben wir Notizzettel tatsächlich meiner Meinung nach vor allem, um Inhalte aus unserem Kopf zu verbannen und auf diese Weise kognitive Ressourcen freizusetzen, um uns mit anderen Dingen beschäftigen zu können. Eindrücklich veranschaulicht dies auch eine Notiz von Immanuel Kant. Der Philosoph aus Königsberg beschäftigte nämlich über weite Teile seines Lebens den Hausbediensteten Martin Lampe. Irgendwann überwarf sich Kant mit dem Diener und stellte einen neuen ein, den er aber regelmäßig auch mit „Lampe“ ansprach. Darum notierte Kant in sein Notizbuch: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden“. Was zunächst paradox erscheinen mag, legt eben diese weitere Funktionsweise von Notizzetteln offen: Was auf einem Zettel steht, nimmt keinen Platz mehr in den Gedanken ein. Elvis Presley hat das auch sehr prägnant ausgedrückt: „I forgot to remember to forget.“
Dabei stehen begeisterte Zettelschreiber wie Luhmann, Wittgenstein und Kant gewissermaßen auf den Schultern von Leonardo da Vinci, wie Sie im Buch erläutern. Wieso das?
Wir können da Vinci heute mit Fug und Recht als Erfinder des Notizzettels bezeichnen. Das liegt auch daran, dass er in genau dem Jahr geboren wurde, in dem ein gewisser Johannes Guttenberg in Mainz das erste Buch mit beweglichen Lettern druckte. Warum dieses Jahr 1452 für die Geschichte des Notizzettels so bedeutend ist: Vor der Erfindung des Buchdrucks macht es wenig Sinn, eine Unterscheidung zwischen Notizzettel und jeder anderen Form der schriftlichen Fixierung zu treffen, da ja alles mit der Hand auf Zettel geschrieben wurde. Alles war „manū scrīptus“, was „mit der Hand geschrieben“ bedeutet und wovon sich das heute noch gebräuchliche Wort „Manuskript“ ableitet. Erst mit der Erfindung des maschinell erstellten Textes, des „Typoskripts“, kam somit auch der Notizzettel in die Welt. Wir wissen heute, dass sich da Vinci der Möglichkeit des Buchdrucks sehr bewusst war und immer wieder mit dem Gedanken spielte, aus seinen unzähligen Zetteln ein gebundenes Buch zu machen. Dass ein solches nie entstanden ist, hatte mit verschiedenen zeithistorischen und persönlichen Gründen zu tun. Und auch damit, dass er vermutlich schlicht den Überblick über seine Notizen verloren hatte.
Dabei ist es doch gerade eine weitere Grundeigenschaft von Notizzetteln, dass sie Überblick verschaffen, indem sie vermeintlich Unverbundenes nebeneinanderstellen.
Das Medium bringt tatsächlich maximal Inkohärentes zusammen, indem sich auf einem einzigen Zettel Gedanken zu wissenschaftlichen Prinzipien, der Beginn eines Liebesbriefs und eine Einkaufsliste finden kann. Gerade diese Logik des Unlogischen, des Inkohärenten ist es aber auch, die unser Denken ausmacht. Auch in unserem Kopf kommt Unzusammenhängendes ohne Abstand vor. Unsere Gedanken sind ja ein Knäuel, in dem alles Mögliche simultan vorhanden ist. Der Notizzettel ist ein Medium, in dem die menschliche Art zu denken zu sich kommt. Hier werden Gedanken in „guter Nachbarschaft“ angeordnet, um es mit einer Formulierung des Kulturwissenschaftlers und Bibliothekars Aby Warburg zu sagen. Dieser nämlich sortierte seine Bücher nicht alphabetisch oder nach Erscheinungsjahr, sondern nach thematischer Anschlussfähigkeit – gute Nachbarschaft eben. So verfahren wir auch mit den Notizen auf unseren Zetteln. Gedanken und Gegenstände gehören zusammen, einfach weil sie beieinander stehen oder, um das Nachbarschafts-Bild fortzuführen, weil sie Tür an Tür nebeneinander wohnen, auch wenn das von außen betrachtet Zufall sein mag.
Um nochmals kurz auf Leonardo da Vinci zurückzukommen, sollten wir unser Bild dieses Ausnahmekünstlers also revidieren und ihn auch als Schriftsteller ernst nehmen?
Wenn er auch kein einziges Buch publizierte, so war er dennoch auf jeden Fall ein Schreibender, der der Nachwelt über 10 000 Notizen hinterließ. Auf der anderen Seite haben wir heute gerade einmal 15 Gemälde, die wir ihm mit einiger Sicherheit zuordnen können, wobei selbst bei manchen dieser Meisterwerke nicht klar ist, ob sie tatsächlich von ihm stammen. Also wenn Leonardo etwas war, dann war er Schreiber, Entwickler und Denker. Maler war er, zumindest was den Zeitaufwand angeht, eher in geringeren Maßen. Zudem ist an diesem unfassbaren Textkonvolut interessant, dass er viele seiner Notizen kodierte, wie übrigens zahlreiche andere Menschen auch, die ihre Gedanken auf Zetteln und in Notizbüchern festhielten. Ganz egal, ob es sich bei ihnen um große Denker oder einfache Bauern im Dreißigjährigen Krieg handelte. Die Sprache von Notizzetteln ist oft eine Privatsprache, unsere Notizbücher sind private Medien.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wissenschaftlich ausgedrückt sind Notizzettel Kommunikanten ohne Kommunikat. Was sich auf einem Notizzettel findet, sieht zwar aus wie eine Mitteilung, will sich aber tatsächlich niemandem mitteilen. Das unterscheidet dieses Medium also grundlegend von einem gedruckten Buch. Unsere Zettel sind nicht für fremde Augen bestimmt, sondern nur für uns. Und uns selbst haben wir nichts mitzuteilen, weil alles, was wir aufschreiben können, wissen wir ja schon. Stattdessen dienen Notizzettel oft als Tool, um Probleme zu fixieren, Dinge zu vergessen oder Unzusammenhängendes als zusammenhängend zu denken.
In einer Welt, in der immer größere Teile unseres Lebens digitalisiert werden, scheint der Notizzettel in seiner Popularität indes kaum gefährdet. Woran liegt das?
Lange hingen wir der Idee an, dass die Technik alle relevanten Menschheitsprobleme lösen könnte. Dieser Glaube allerdings verliert an Rückhalt, da wir merken, dass sie mindestens so viele Probleme schafft, wie sie löst. Und so ist auch die Rückkehr zu analogen Verfahren in ganz unterschiedlichen Bereichen zu erklären. Denken Sie beispielsweise an das Revival von Vinyl. Im Hinblick auf den Notizzettel oder auch das Notizbuch ist es aber sicher so, dass wir hier einige Gedanken notieren, die wir wirklich niemandem anvertrauen wollen. Wir wollen nicht, dass unser Tagebuch in irgendeiner Cloud gespeichert und potenziell durch einen Hackerangriff veröffentlicht wird, sondern wir möchten es ganz haptisch bei uns haben. Interessanterweise hielt Mark Zuckerberg seine Vision für Facebook ja auch in seinen Journals fest, die später absichtlich vernichtet worden sind, um nicht mehr vor Gericht verwendet werden können. Zudem: Nichts, was eine Steckdose braucht, kann jemals Universalmedium werden, wodurch digitale Medien komplett ausscheiden. Hingegen kann alles Notizzettel werden. Sei es ein Stück Papier, eine Serviette oder ein Hemdsärmel. Wer im konkreten Moment einen wichtigen Einfall hat, muss ihn in genau diesem Moment aufschreiben können. Das spontane Aufschreiben unserer Gedanken ist eigentlich eine Denkäußerung, sowie ein Schmerzensruf eine Gefühlsäußerung ist: Hier schreibe ich, ich kann nicht anders. Weil alles Notizzettel werden kann, wird dieses Medium auch noch sehr lange existieren und sich gegen jegliche Form von Digitalisierung erwehren können. •
Hektor Haarkötter ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Ehrenamtlich ist er Vorstand der Initiative Nachrichtenaufklärung, die jährlich eine Liste der wichtigsten Themen veröffentlicht, die in den deutschen Medien vernachlässigt werden. Jüngst erschien von ihm „Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert” im Fischer Verlag.
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