Herkunft handhaben – aber wie?
Vom Geschlecht bis zur Religion: Wir kommen geprägt zur Welt. Wie man mit diesem Faktum am besten umgeht, dazu geben Philosophen und Philosophinnen verschiedenste Antworten. Vier Strategien zur Selbstfindung – von traditionsbewusst bis aufmüpfig.
1. Akzeptieren
Odo Marquard *1928
Leiden Sie unter der Schnelllebigkeit der Veränderungen? Hegen eine Sehnsucht nach Wurzel und Ursprung, ohne damit dem Fortschritt rundheraus sein Recht abzusprechen? Philosophischen Rückhalt finden Sie in Odo Marquards Essay Zukunft braucht Herkunft. Marquard zufolge müssen wir fähig sein, beides zu leben: „Die Schnelligkeit (Zukunft) und die Langsamkeit (Herkunft).“ In der Herkunft finden wir den Schlüssel, um den rasanten Vorwärtsdruck der Moderne zu entschleunigen. Machen Sie sich bewusst, dass Sie keineswegs alles hinter sich lassen können, sondern in „Üblichkeiten“ hineingeboren wurden: Familie, Sprache, Institutionen und vieles mehr. Wo der Einzelne in das Leben tritt, ist niemals der Anfang. Ja, in Anbetracht der begrenzten Lebenszeit ist es gar nicht möglich, sein Leben von Grund auf neu zu gestalten. Wir können nicht beliebig unserer „Herkunftshaut“ entkommen und alle Dinge des Lebens neu regeln. Daher müssen wir notgedrungen „überwiegend das bleiben, was wir schon waren“. Auch im Hinblick auf technische Innovationen ist es heilsam, sich auf das Altbewährte zu besinnen. So erweist sich gerade im Bereich der extremsten Wandlungsbeschleunigung – der Medien- und Informationsgesellschaft – eine der kulturell ältesten Praktiken als unabdingbar: das Miteinander-Reden. Wir können uns von der unglaublichen Masse an Daten und Informationen entlasten, wenn wir gemeinsam darüber sprechen, welche Dinge für uns relevant sind. Mit Marquard lernen Sie, der Moderne gelassener zu begegnen. Nicht das Alte und Althergebrachte, sondern das Neue hat sich zu rechtfertigen – und scheitert oft genug daran.
Lektüreempfehlung: Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays (Reclam, 2003)
2. Rebellieren
Friedrich Nietzsche 1844-1900
Sie hassen es, in die Fußstapfen anderer zu treten, wollen die Ketten der Herkunft ein für alle Mal sprengen? „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“, beschreibt Friedrich Nietzsche sich selbst im Ecce Homo. Sein Denken versteht der prominenteste Rebell der Geistesgeschichte als Methode, „mit dem Hammer“ zu philosophieren, die auch Ihnen ein Richtungsweiser sein könnte. Seine Rebellion richtete sich vornehmlich gegen die „Sklavenmoral“ des Christentums – hat diese doch, so Nietzsche, das „Leben an der Wurzel“ angegriffen. Stolz, Stärke, Kraft würden im Lichte dieser lebensfeindlichen Moral entwertet, alles Schwache dagegen mit einem Heiligenschein versehen. Und also fordert Nietzsche: Neue Werte auf neue Tafeln! Wage es, aufzubegehren und unzeitgemäß zu leben – so, dass du wünschen kannst, genau so noch einmal zu leben, bis in alle Ewigkeit! Es liegt einige Ironie in der Tatsache, dass gerade Nietzsche – Sohn eines Pfarrers und als Kind aufgrund seiner leidenschaftlichen Rezitierung von Kirchenliedern und Bibelversen der „kleine Pastor“ genannt – zu einem der schärfsten Kritiker der christlichen Religion wurde. Tatsächlich verdankt der zeitlebens kränkelnde Philosoph seine rebellische Haltung nicht nur sich selbst, sondern seinem „Erzieher“ Arthur Schopenhauer, der ihn heraushob aus dem tiefen Strom des Bekannten. Auch das Denken Nietzsches hat also eine Herkunft, was Sie als „Anfänger“ durchaus entlasten sollte. Nehmen Sie sich ruhig den guten alten Nietzsche als Vorbild. So viel Herkunft muss sein. Doch irgendwann müssen Sie auch gegen Ihre eigenen geistigen Wurzeln aufbegehren; so wie Nietzsche gegen Schopenhauer. Nur Mut!
Lektüreempfehlung: Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist (Suhrkamp, 2000)
3. Hinter sich lassen
Buddha 563-483 v. Chr.
Nichts wünschen Sie sich mehr, als unbeschwert durchs Leben zu schreiten? Den Ballast des Vergangenen abzuwerfen wie einen lästigen Sandsack? Letzteres tat Buddha am Beginn seiner Reise, deren Ziel es war, den Ursachen der existenziellen Leiden auf den Grund zu gehen. Und so verließ er Frau und Kind, entledigte sich aller Güter, die er als Abkömmling einer indischen Adelsfamilie besaß. Doch materieller Verzicht erschien ihm bald als ungeeignet, um tiefe Erkenntnis zu erlangen. Er verstand, dass vielmehr eine geistige Abkehr stattfinden müsse, um den Leiden unseres Daseins zu entkommen. Diese Abkehr aber, so Buddha, gelingt gerade nicht durch eine Negation der Herkunft, sondern durch ihre ultimative Durchdringung: Wir sind keine unabhängig existierenden Wesen, sondern die Summe all der unzähligen Verbindungen mit unserer Umwelt, ja, mehr noch: all unserer vorangegangenen Leben. Unsere jetzige Existenz ist das Ergebnis zahlloser Reinkarnationen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Nicht einmal der Tod lässt uns aus der Endlosschleife der Wiedergeburten austreten. Doch gerade die Erkenntnis, dass unser Ich im Innern nur ein Geflecht von Relationen und damit substanzlos ist, führt zur Loslösung vom Leid – ist dieses doch im Kern genauso leer wie das Ich! Der auf diese Weise Erleuchtete entkommt dem Kreislauf der Reinkarnationen: Seinem Tod folgt nicht mehr die Wiedergeburt, sondern der Eingang ins „Nirvana“ („Erlöschen“) – die endgültige Erlösung von allem Leid. Dass selbst Erleuchtete erst nach ihrem Ableben Leichtigkeit erfahren, mag Sie erschrecken. Aus buddhistischer Sicht muss man Ihnen – leider – sagen: Ganz oder gar nicht.
Lektüreempfehlung: Bhikkhu Anālayo: Der direkte Weg – Satipatthāna (Beyerlein & Steinschulte, 2010)
4. Transformieren
Judith Butler *1956
Sie können sich nicht damit abfinden, von Geburt an in Schubladen gesteckt zu werden? Gesund/krank, schwarz/weiß, männlich/weiblich: Sie passen nicht in derlei Kategorien, fühlen sich als Grenzgänger zwischen den Welten? Klarer Fall: Judith Butler ist Ihre Philosophin, denn die Dekonstruktivistin hinterfragt vermeintlich festgelegte Identitäten radikal. Unsere Identität verstehen wir gemeinhin als eine Einheit, die sich maßgeblich aus unserer genetischen Herkunft, aus dem natürlichen Ursprung von Zeugung und Geburt ergibt. Vor allem eine klar benennbare Geschlechtlichkeit ist für uns notwendig, damit eine Identität „lesbar“ ist. Butler aber wendet ein: Ein einheitliches Sein, das auf der Unterscheidung männlich/weiblich fußt, ist ein „normatives Ideal“ und somit kulturell erzeugt. Butler geht sogar so weit, auch das biologische Geschlecht zu dekonstruieren. Immerhin wäre eine Welt denkbar, in der die Menschen jenseits der Fortpflanzungslogik unterschieden werden; oder in der man sogar ganz auf ein Entweder-oder verzichtet. Umso entschiedener macht sich Butler für das „Dazwischen“ stark: Gerade Sie als Grenzgänger können das Phantasma einer „natürlichen“ Identität entlarven und mitarbeiten an einer offeneren Welt! •
Lektüreempfehlung: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (Suhrkamp, 1991)
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Werde ich meine Herkunft jemals los?
Herkunft stiftet Identität. Biografische Wurzeln geben uns Halt und Sinn. Gleichzeitig beschränkt die Herkunft unsere Freiheit, ist gar der Grund für Diskriminierung, Enge und Depression. Die großen Denker der Moderne waren sich daher einig: Löse dich von den Fesseln der Herkunft! Werde du selbst, indem du mit deinem Erbe brichst! Peter Sloterdijk legt dar, weshalb diese Form der Herkunftsverleugnung die eigentliche Ursünde der Moderne darstellt. Für Reyhan Şahin ist das Bestreben, die eigene Herkunft loszuwerden, vor allem eines: typisch deutsch. Und Svenja Flaßpöhler argumentiert: Nur wer sich seiner Herkunft stellt, muss sie nicht wiederholen. Was also tun mit der eigenen Herkunft: akzeptieren, transformieren – sie ein für alle Mal hinter sich lassen?
Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

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Rückkehr nach Sarcelles
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat ihre Jugend in Sarcelles, einer Stadt in der Pariser Peripherie verbracht. Seit 37 Jahren hat sie ihren Herkunftsort nicht mehr besucht. Für das Philosophie Magazin begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit, in eine Stadt, die von antisemitischen Aufständen und islamistischer Radikalisierung traumatisierten ist. Vor diesem Hintergrund entwirft sie die Grundlage eines neuen Universalismus, der Raum für die Religionen lässt.
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