Herrschaft ohne Ordnung
Der Libertarismus ist in Amerika auf dem Vormarsch. Unter dem Deckmantel uneingeschränkter Freiheit verachtet er die Demokratie und setzt auf das Recht des Stärkeren. Justus J. Seuferle über das falsche Freiheitsverständnis dieser rechten Ideologie.
Der Libertarismus schmückt sich mit der besonders radikalen und konsequenten Verwirklichung der politischen Kardinaltugend der Freiheit. Er erfreut sich nach Jahrzehnten der Nischenexistenz nun immer größerer Aufmerksamkeit und Beliebtheit – von Javier Milei, über große Teile der Republikanischen Partei, bis hinein in FDP (Euro Rebell Frank Schäffler) und AfD (Peter Boehringer). Seine Anhänger behaupten, nur ihre Denkweise könne die Freiheit wirklich wollen können. Aber führt diese Idee über die Freiheit wirklich zu so etwas wie Emanzipation?
Das gestiegene Interesse am Libertarismus könnte man auf den Mantel des Rebellentums zurückführen, mit dem er sich schmücken kann. Als Kämpfer gegen staatliche Ordnung und Bürokratie wirkt er beinahe links, anarchisch, und bietet damit eine Form des Aufbegehrens für all jene, die sich eingeengt fühlen. In komplizierten Zeiten bietet der Libertarismus ein lautes „Trotzdem“ an und macht aus den Springer-Journalisten Ulf Poschardt und Anna Schneider so etwas wie neoliberale Punks. Sein rebellischer Glanz mag verführerisch sein – doch hinter dem Versprechen grenzenloser Selbstbestimmung verbirgt sich oft die nüchterne Realität eines Marktes, der stärker herrscht als jeder Staat.
Als politische Kraft hat der Libertarismus in Europa bislang kaum Fuß gefasst. Über einzelne Vertreter hinaus verfügt er nicht über nennenswerte institutionelle Strukturen und bleibt zumindest noch eine politische Nischenideologie. Nichtsdestotrotz hat der Libertarismus in Europa auf ideeller Ebene bereits nachhaltig Wirkung entfaltet. Er hat eine bestimmte Denkfigur popularisiert: den vermeintlichen Widerspruch zwischen Ordnung und Freiheit. Er hat es so vermocht, Freiheit und Gemeinwohl gegeneinander auszuspielen, ohne überhaupt als politische Macht entfaltet zu sein.
Anders verhält es sich in Amerika: In den USA finden sich libertäre Ansätze seit Jahrzehnten, etwa im Umfeld der Tea Party-Bewegung, im Silicon Valley oder bei wirtschaftsliberalen Think Tanks. In Argentinien hat mit Javier Milei erstmals ein Politiker mit deutlich libertärem Profil die Präsidentschaft erreicht und versucht, das Land nach marktradikalen Prinzipien zu reformieren. Der Libertarismus ist bekanntlich nicht die einzige Ideologie, die sich der Freiheit verschrieben hat. Neben dem etwas anderen Eintreten für die Freiheit der Sozialdemokratie und des Sozialismus sind vor allem der Anarchismus und der Liberalismus scheinbar dem gleichen Ziel verpflichtet. Doch an entscheidender Stelle biegt der Libertäre rechts ab. Der Libertarismus unterscheidet sich, da er die Freiheit des Einzelnen auf Kosten der Freiheit der Anderen duldet – und selbst die Vorherrschaft derjenigen, die sich größere Freiheit nehmen, noch als Freiheit versteht.
Eine besonders radikale Ausformung des Libertarismus stellt der sogenannte Anarcho-Kapitalismus dar. Hier wird die Forderung nach dem Minimalstaat bis ins Extrem zum Nicht-Staat getrieben. Statt staatlicher Institutionen sollen private Zusammenschlüsse und Unternehmen für Sicherheit, Eigentumsschutz und Recht sorgen. Was das von einem System konkurrierender Warlords unterscheidet, ist nicht klar.
Die Nachtwächter der Mächtigen
Doch die Libertären grenzen sich vom Liberalen nicht etwa durch Radikalität ab, sondern vielmehr durch das Nicht-Problematisieren der nichtstaatlichen Macht. Die Macht, die sich im Markt und der Gesellschaft formt, wird vom Libertären als spontan und natürlich geframt – und entzieht sich so jeder Kritik. Der Staat – scheinbar nicht spontan entstanden – erscheint in ihrer Erzählung als großer Gegenspieler der Freiheit, als die Macht, die unsere Autonomie, also Selbstgesetzgebung, verhindert. Verbote und Vorschriften sind für den Libertären stets gegen die Freiheit gerichtet. Der Nachtwächterstaat, der sich auf den Schutz von Leben und Eigentum beschränkt, wird als einzig wirklich freies Gegenmodell konstruiert.
Damit offenbart der Libertäre einen eindimensionalen Machtbegriff, der nur die Einschränkung der Ordnung des Staates, nur die negative Freiheit von etwas und nur die Freiheit des atomisierten Individuums nicht mit, sondern gegen die Welt sieht. Freiheit als Trotzdem der Freiheit der Anderen. Was der Freiheit im Sinne der Libertären nämlich nicht zu widersprechen scheint, ist Macht – spezifischer: die exklusive Verteilung der Macht. Libertär ist es, einen absoluten Zielkonflikt zwischen Freiheit und Ordnung zu behaupten und gleichzeitig den freiheitseinschränkenden Effekt privater Macht zu ignorieren oder zu leugnen. Übrig bleibt so etwas wie die Freiheit der Wenigen auf Kosten der Freiheit der Anderen. Der Staat reduziert zum Nachtwächter der Mächtigen.
Dass die staatliche Ordnung als Vehikel der durch Markt und Gesellschaft Ohnmächtig-Gemachten fungieren kann, will der Libertäre nicht sehen. Der Staat tritt in einer Demokratie zumindest auch als Macht begrenzende Macht auf – als power to limit power. Diese Metamacht nimmt die notwendige Planung der Freiheit erst vor. Den Mächtigen die Ausübung ihrer auf Kosten anderer gehenden Freiheit zu verbieten, ist kein gegen die Freiheit gerichtetes Verbot. Niklas Luhmann spricht in diesem Kontext von der Umwelt als allgemeinem Freiheits-Einschränker. Das Außen des Individuums – ob Markt, Staat oder Natur – gibt vor, was möglich ist. Wem etwas an der Freiheit liegt, der muss – wie es viele Liberale im Gegensatz zu Libertären erkannt haben – die Rolle aller Einschränker zurückdrängen. Ohne kritischen Blick auf die Macht der Arbeitgeber über ihre Angestellten, der Väter über ihre Kinder, der Sitte und des Marktes fordert man paradoxerweise nur die Befreiung von demjenigen Einschränker, der die anderen Einschränker im Zaum hält. Im Grunde fasste es der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon treffend zusammen: „Freiheit ist die Herstellung einer Ordnung ohne Herrschaft.“ Was der Libertarismus versucht, ist das Gegenteil.
Kapitalismus
Im Diskurs taucht der Libertarismus oft als bloßes ökonomisches Argument auf – als These über die besondere Effizienz einer Ökonomie durch laissez-faire. Besonders die Denker der Österreichischen Schule, Mises und Hayek, machen oftmals eher Anmerkungen zur Effizienz der Wirtschaft als normativ-politische Analysen.
Der Libertarismus hat ein besonderes Verhältnis zum Kapitalismus, so sehr, dass man ihn als den philosophisch-ideologischen Überbau der Macht- und Gesellschaftsordnung eines laissez-faire-Kapitalismus bezeichnen könnte. Für Libertäre ist der Kapitalismus das ökonomische a priori der Freiheit. Die im Markt entstehenden Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Ungleichheiten werden gerechtfertigt – schließlich seien sie das Ergebnis der voluntary association und der spontanen Ordnung.
Marx beschrieb die Situation der abhängigen Arbeiter als „doppelt frei“: frei vom formalen Zwang, aber auch frei vom Besitz an Produktionsmitteln, die Unabhängigkeit bedeuten würden – gefangen in der Notwendigkeit, für andere, Mächtigere zu arbeiten. Sogar Liberale wie der frühere FDP-Politiker Karl Hermann Flach wussten, dass „sich abhängig Beschäftigte oft am kürzeren Hebel, sich in fast feudaler Abhängigkeit befinden und letzten Endes doch nur gut ausgehaltene Wirtschaftsuntertanen sind“. Dieses durch Abhängigkeit und Ohnmacht kreierte Machtverhältnis der Besitzenden über die Nicht-Besitzenden, der Mächtigen über die Ohnmächtigen, interessiert den Libertären nicht nur nicht – er möchte sogar aktiv mehr davon. Das ungleiche Verhältnis von Eigentum und Arbeit soll durch den Rückzug des Staates noch auf die Spitze getrieben werden.
Am Ende steht die von Autorinnen wie Ayn Rand propagierte Herrschaft der prime movers – jener „Erstbeweger“, die sie als schöpferische Elite deklariert: Unternehmer, Genies, Pioniere, die angeblich allein durch ihre Kraft und Genialität den Fortschritt der Welt schultern. In Rands Weltbild sind diese prime movers die Quelle allen Wohlstands und aller Zivilisation, während für den Rest die Rolle der „Parasiten“ bleibt. Dieses Märchen vom wirtschaftlichen Übermenschen, der die Welt schultern und beherrschen soll, ist im Kern nichts anderes als eine ökonomisierte Version des divine right – des göttlichen Rechts der Herrscher.
Natur
Wie andere rechte Ideologien hat auch der Libertarismus eine besondere Verbindung zur Natur. Rechte Ideologien machen nach Roland Barthes aus Geschichte Natur, also aus gewordenen Strukturen notwendige und unveränderbare. Die Welt, die ist, wird so zur einzigen Welt, die sein kann. Von sich selbst behauptet der Libertäre, diese besondere Einsicht in die Kraft des Spontanen, des Ungesteuerten, des Natürlichen zu haben. Für Hayek ist der Libertarismus die Umsetzung der „spontanen Ordnung“ – jener Struktur also, die sich ohne Planung „von oben“ manifestiert. Durch die voluntary association entsteht eine Gesellschaft, die weder zentrale Autorität noch ständige Regulierung braucht. Doch was Hayek stets als freiwillig beschreibt, ist ebenfalls von Macht durchzogen. Macht, die zwar spontan und natürlich erscheinen mag, aber im Ergebnis nicht weniger Herrschaft bedeutet.
Die Vorstellung, Freiheit sei ein Naturzustand, verwechselt Sein mit Sollen – ein naturalistischer Fehlschluss. Freiheit entsteht nicht qua natura, sondern muss konstruiert werden. Sie als Gegensatz zur Ordnung zu definieren, ist ein Irrtum. Das Zebra im Maul des Löwen als frei zu betrachten, ist der zentrale Denkfehler des Libertarismus.
Der Libertäre propagiert, dass der Mensch qua natura ungleich an Fähigkeiten, Fleiß und an Stärke ist und sich daher auch eine ungleiche Machtstruktur zwischen den Menschen herausbilden muss. Der Libertarismus wird dadurch zu einer rechten Ideologie. Rechts, da er die Ungleichheit der Menschheit behauptet, propagiert und verteidigt und daraus verschiedene Wertigkeiten und Schicksale folgert und fordert – anders als radikal-konservative Ideologien nicht die essentielle, biologische Ungleichheit, aber dafür umso mehr die existenzielle, gewordene Ungleichheit. Dabei verwechselt er – wie der Reaktionäre – Sein mit Sollen und driftet in sozialdarwinistische Kategorien ab.
Eine Herrschaftstreue Idee von Freiheit
Man kann den Libertären zugutehalten, dass sie eine nicht ganz unangebrachte Skepsis gegenüber der Anhäufung von Macht im Staat und der Möglichkeit der sozialen Veränderung durch den Staat haben. Gutwillig könnte man behaupten, es handelt sich hier um eine deontologische, keine utilitaristische Idee von Freiheit: nicht die Freiheit der größtmöglichen Zahl, sondern die radikale Freiheit des Einzelnen. Freiheit nicht als Zweck, sondern als Mittel. Die Emanzipation der Massen ist weder Ziel noch Weg des Libertären.
Doch die fehlende Skepsis gegenüber privater Macht und die Vernaturalisierung der sozialen Verhältnisse machen aus dem Libertarismus eine herrschaftstreue Idee von Freiheit. Die Herrschaftstreue wird eingefordert, indem Ordnung und Freiheit als Widerspruch gesetzt werden. Die libertäre Demokratieverachtung eines Peter Thiel will im Grunde sagen, dass Ordnung im Sinne der Vielen den Mächtigen die Freiheit zur Herrschaft nimmt. Statt Emanzipation der Massen wird Freiheit zur Belohnung eines sozialdarwinistischen Wettbewerbs – zur exklusiven Ressource der Gewinner. So wird Freiheit vom gesellschaftlichen Ziel zum exklusiven Gut. •
Justus Seuferle ist Politikwissenschaftler und arbeitet im europapolitischen Bereich. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien und der London School of Economics mit einem Fokus auf politische Theorie und Europäische Integration. Er schreibt hier und anderswo rein persönlich.
Dieser Text ist Teil der Reihe „Die Kartierung des politischen Raums“
Rechts, links, konservativ, liberal, progressiv, reaktionär – sie sind als Bezeichnungen politischer Positionen etabliert und doch vielfach ambig. Wen meint man schließlich, wenn man von „den Rechten“ spricht? Was sind die Wurzeln des Konservatismus? Und woran bemisst sich eine linke Haltung? Unsere Reihe nimmt die verschiedenen Positionsbezeichnungen in den Blick – mit Meinungsstücken und Analysen, aus den unterschiedlichsten Perspektiven heraus. Ein Versuch, in der komplexen Begriffslandschaft des Politischen neue Orientierung zu schaffen.
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