Jüdisch, weiß, privilegiert?
Wie verhalten sich Rassismus und Antisemitismus zueinander, und wo erweist sich der Antirassismus als antisemitisch? Drei Bücher beleuchten das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven.
David Baddiel ist ein britischer Comedian und Erfinder des Hashtags #jewsdontcount. Zu Deutsch: „Juden zählen nicht.“ So heißt sein Buch auch im Original. Hanser, sein deutscher Verlag, hegte allerdings die Befürchtung, Menschen könnten diesen Titel nicht als ironisch vorgetragene Kritik, sondern als Feststellung verstehen. Deswegen trägt die Übersetzung nun den Titel: Und die Juden?
Beide Titel fassen das Unternehmen Baddiels gut zusammen. Denn der Autor stellt in seinem gut lesbaren Buch die Frage, warum viele Progressive alle Minderheiten für schützenswert erachten – nur Juden wie ihn nicht. Im Vereinigten Königreich und den USA wird Juden oft das Privileg zugeschrieben, als „weiß“ zu gelten. Damit wird ihnen abgesprochen, diskriminiert, gehasst oder gar physisch angegriffen zu werden, weil sie Juden sind. In den Augen jenes Teils der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, der sich als progressiv versteht, gilt laut Baddiel unausgesprochen das Axiom: „Antisemitismus ist ein Rassismus zweiter Klasse.“ Antisemitismus werde in der Regel nur als solcher erkannt und benannt, wenn er als zielgerichtete Aggression durch Nazis oder andere Rechtsextremisten erscheint. Baddiel möchte aber die Aufmerksamkeit auf eine Abwesenheit richten. „Anteilnahme, Fürsorge, Engagement“ werde Juden nicht zuteil. Niemand fordere analog zu anderen Minderheiten eine „erhöhte Sichtbarkeit“ für sie. Baddiel zeigt diese Abwesenheit anhand einer Fülle von Beispielen.
Fatale Unsichtbarkeit
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