Jürgen Habermas: „Es gibt keine unbeweglichen Identitäten“
Der bekannteste lebende Vertreter der Kritischen Theorie ist eine der einflussreichsten intellektuellen Stimmen der Gegenwart. Im Interview erinnert sich Jürgen Habermas an Theodor W. Adorno – und spricht über die großen Themen unserer Zeit: Coronakrise, Rechtsruck, Identitätspolitik und die Zukunft Europas.
Herr Habermas, wenn ein junger Mensch, der vielleicht gerade seinen Schulabschluss gemacht hat, sich angesichts von Klimakrise, grassierendem Populismus und digitaler Überwachung die Welt zu erschließen versucht, welches philosophische Werk würden Sie ihm oder ihr empfehlen? Wäre es eines aus dem Umfeld der Kritischen Theorie?
Ich würde keinen dieser zeitdiagnostischen Schnellschüsse empfehlen, sondern als Anstiftung zum Philosophieren die zweieinhalb Seiten empfehlen, die in Hegels Handschrift unter dem etwas irreführenden Titel des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus überliefert sind. Selbst wenn jemand – sagen wir eine junge Abiturientin – den Kontext dieser Zeilen nicht versteht, wird sie die transzendierende Kraft eines poetisch-philosophischen Denkens spüren, das damals – wenige Jahre nach der Französischen Revolution – die Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin bewegt hat. Daraus sind ja philosophische und dichterische Werke hervorgegangen, die die Welt bewegt haben und noch bewegen. Wenn dann dieser philosophische Funke gezündet hat, würde ich ihr oder ihrem interessierten Freund Hegels verwirrende, aber in die richtigen Bahnen lenkenden „Jugendschriften“ zur Lektüre empfehlen. Am Ende werden die beiden die Begriffe von Freiheit und von Liebe, das heißt von der Gegenseitigkeit intersubjektiver Beziehungen überhaupt kennengelernt haben, die sie, in welche Richtung ihr eigenes Denken sie auch immer führen wird, nicht mehr vergessen werden.
Sie sind der letzte Vertreter der Kritischen Theorie, der Theodor W. Adorno noch persönlich kannte. Zum ersten Mal haben Sie ihn nach dem Erscheinen Ihres Artikels Dialektik der Rationalisierung im Merkur (1954) getroffen – da waren Sie Mitte zwanzig. Erinnern Sie sich an dieses Treffen? Wie war Ihr Verhältnis zur „ersten Generation“ der Frankfurter Schule?
Beim ersten Treffen im Januar 1955 war Adorno in der Öffentlichkeit noch nicht „Adorno“. Die in ihren Bewegungen geschmeidige, gleichzeitig entgegenkommende und sich doch nach außen abschirmende Person, die mich, wie ich erst später sah, an Horkheimers Schreibtisch empfangen hat, begrüßte mich mit betonter, zugleich undurchdringlicher Höflichkeit. Die transparente, zur zweiten Natur gewordene Intellektualität der gestochen artikulierten Sprache verriet vielleicht ein Moment des Gekünstelten, das den unvorbereiteten Besucher überraschte. Ich konnte damals nicht ahnen, was die folgenden viereinhalb Jahre im fast täglichen Umgang mit diesem genialen, verletzbaren, gegenüber Institutionen wehrlos-hypersensiblen Geist für mich bedeuten würden – in meiner philosophischen, überhaupt in meiner mentalen Entwicklung. Adorno war eine Person, die nicht nicht denken konnte. Er stand fast immer unter Strom. Das hatte fast etwas Schmerzhaftes. Umso entspannter waren gastfreundliche Abende in kleiner geselliger Runde, wenn sich der Hausherr sicher fühlen durfte. Adorno führte ein bürgerliches Leben, ging mittags zum Essen nach Hause und kam pünktlich um drei Uhr nachmittags, Arm in Arm mit Gretel, von der nahen Klettenbergstraße zurück ins Institut.
Wenn Sie insgesamt an diese Zeit zurückdenken, gibt es für Sie bestimmte Parallelen zur oder Konstanten in die Gegenwart? Oder haben wir es heute – politisch, gesellschaftlich und kulturell – mit einer völlig anderen Welt zu tun, die auch andere analytische Zugänge erfordert?
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Kommentare
Ich tue mich schwer mit Habermas. Ich bin zu dumm, um ihn zu verstehen. Popper ging es ähnlich. Viel Schwülstiges, Aufgeblasenes. Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen. Will er verstanden werden? Ich zweifle.