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Bild: Wikimedia Commons

Klassiker

Kierkegaard und die Existenz

Philippe Chevallier veröffentlicht am 01 Juni 2016 9 min

Für welche Existenzweise soll ich mich entscheiden? Das Schwindelgefühl, das uns angesichts dieser Frage erfasst, hat Søren Kierkegaard selbst mit Leib und Seele durchlebt. Er unterscheidet verschiedene Arten des Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt. Eine Einführung in die Reflexionen des dänischen Philosophen über die „Stadien“ der Existenz. 

Die von der Moderne so hart erkämpfte Freiheit erinnert an manchen Tagen an eins jener Weihnachtsgeschenke, die man am liebsten sofort wieder loswerden würde: „Ich mag dieses Spielzeug nicht!“ Es ist nicht lustig, zu kompliziert, zu gefährlich. Mitte des 19. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der Dänemark auf dem Weg zur Demokratie ist, diagnostiziert ein einsamer Philosoph ohne Lehrstuhl, Søren Kierkegaard, das Übel, an dem seine Zeitgenossen leiden: die Freiheit der Wahl. Um die Verstrickungen, die von dieser Freiheit ausgehen, aufzulösen, beschließt er, verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen; die Stimmen einer Vielzahl fiktiver Figuren, die durch sein Werk sprechen und verschiedene Lebensmöglichkeiten widerspiegeln: der Verführer Johannes, der gute Ehemann Wilhelm, der bewundernswerte Christ Anti-Climacus und so weiter. Wem soll man folgen? Wenn man sich diese Frage stellt, hat man bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt: Es wird einem bewusst, dass die Lebensentwürfe nicht miteinander verschmelzen, sondern sich entgegenstehen, sich widersprechen. Seit seinem ersten Werk, das er mit 29 Jahren veröffentlichte, steht Kierkegaards Denken im Zeichen der Alternative: Entweder – Oder. Diese Formulierung, die auch dem Werk den Titel gab, stellt ein Ultimatum, sie fordert die grundlegende Entscheidung, die alle zukünftigen bereits in sich enthält und den Beginn eines moralischen Lebens bedeutet: die Wahl seiner selbst.

 

Rückzug in die Unsicherheit

 

Kierkegaard hatte lange Zeit nur einen Feind – einen feindlichen Bruder vielmehr, in dessen Fußstapfen er manchmal zu treten schien: Hegel, den Vertreter einer spekulativen und systematischen Philosophie, die nach Kierkegaards Ansicht die konkrete Existenz vernachlässigt hatte. Die Existenz ist die Bemühung, zu sich selbst zu gelangen – eine Bewegung, die sich nicht über Wissen oder Verhaltensweisen bestimmt. Sie ist eine innere Leidenschaft, die sich in erster Linie negativ definiert durch den Verlust jeglicher Sicherheit. Nicht ein Eintauchen in sich selbst – was eine illusorische Introspektion wäre –, sondern ein Leiden an sich selbst beschreibt den Weg, den es zu gehen gilt: Man zieht sich vom Außen zurück, ohne jemals Sicherheit im Inneren zu finden. Dabei geht es nicht um einen egoistischen Rückzug, sondern einzig um die Ideen, die unsere Existenz verändern können: „Die Gedanken des Menschen sollten stets seine Behausung sein“, schreibt Kierkegaard in seinem Tagebuch.

Diese innere Bewegung im Elend, die weder eine Umnachtung des Verstandes noch eine mystische Ekstase ist, hat Kierkegaard sehr feinsinnig erfasst. Doch aufgrund seiner Opposition zu Hegel wurde das Werk des dänischen Philosophen häufig auf einen geistigen Dandyismus reduziert – was so ähnlich ist, als würde man Weihwasser mit Kölnisch Wasser mischen. Vergessen wir die Philosophielehrbücher des 20. Jahrhunderts, die uns diesen ungenießbaren Cocktail aufgetischt haben. Große Gedanken entwickeln sich über verschiedene Epochen, tauchen in neue Atmosphären ein, in denen überraschende Emulsionen entstehen. Was sagt uns Kierkegaard also heute? Zielscheibe seiner Polemik ist das Konzept des Lebens als Strom, in dem sich die Widersprüche und Entscheidungsalternativen auflösen wie in einem großen Fluss, in dem alles Lebendige schwimmt. Die heute verbreitete Betonung des Lebens, die Behauptung, das Leben sei ein vollwertiger und hinreichender Orientierungspunkt für den Kurs der Philosophie, ist genauso abstrakt geworden wie die großen Allgemeinheiten, die wir von Hegel und dem 18. Jahrhundert geerbt haben: die Geschichte, der Staat, der Geist. Das Comeback des Bergson’schen Vitalismus ist ein Symptom dafür. Das Leben gibt und das Leben nimmt, das Individuum beugt sich. Die der Existenz eigene Bewegung wird so zu einem An- und Abschwellen der Säfte statt zu einem Entschluss.

Doch Kierkegaard durchbricht mit seinem Begriff der Existenz jegliches Kontinuum des Lebens. Denn es gibt Abgründe. Nicht die Abgründe der Seele – die von Psychologen nur allzu leicht ergründet werden können –, sondern Abgründe, die die „Stadien“ auf dem Lebensweg voneinander trennen, ohne dass es ein zuverlässiges Wissen gibt, wie man von einem zum anderen gelangt. Doch warum sollte die Existenz Stadien haben? Bin ich nicht immer derselbe, wenn ich liebe, arbeite, lebe, wenn ich mich hier und da mit dem besagten Leben arrangiere? Nach alter lateinischer Etymologie ist ein Stadium das, was ein Läufer durchquert, bevor er außer Atem gerät und schließlich stehen bleibt. Passiert es uns nicht manchmal, am Ende eines Laufes angekommen zu sein, ohne zu wissen, wie es weitergeht? Bei Kierkegaard gibt es drei Läufe: das ästhetische Stadium, in dem der sinnliche Augenblick (das Erotische) das Selbst daran hindert, sich auszubilden und zu festigen; das ethische Stadium – das Stadium der Verantwortung und des Versprechens gegenüber anderen (die Ehe), das den Augenblick auslöscht und sich auf die Dauer einlässt. Und schließlich das religiöse Stadium, das den Augenblick wiedererlangt, jedoch als Liebesbeziehung jenseits von Sinnlichkeit oder Versprechen (als Glaube). Es wäre aber ein Irrtum, verstünde man diese drei Stadien als drei grundlegende Entscheidungen, vor denen das Individuum beziehungsweise die Existenz steht – denn dann könnte man sich fragen, worin die Systematik dieser Entscheidungen besteht, warum es drei und nicht vier oder fünf sind. Das erste und das letzte Stadium stellen auch vielmehr eine Negation der Entscheidung dar: Der Ästhetiker will sich alle Möglichkeiten offenhalten und trifft somit gar keine Entscheidung, er lehnt jegliche Entscheidung ab. Und der Glaubende erkennt a posteriori, dass die Entscheidung für Gott gar keine Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit war. Es bleibt also nur eine einzige echte Entscheidung übrig.

 

Die innere Wahl als ethische Wahrheitsbedingung

 

Nur das Ethische beruht auf einer individuellen Tat und zwar der allerschwersten. Dies hat aber nichts mit der letztlich sehr abstrakten Entscheidung zu tun, dieses oder jenes zu sein oder zu tun, etwa seine alte Mutter zu pflegen oder in den Untergrund zu gehen, ein erfolgreicher Dieb zu werden oder ein mittelmäßiger Kellner, um Sartres berühmte Beispiele aufzugreifen, denn sie verfehlen die wirkliche Entscheidung eben gerade. All unsere konkreten Entscheidungen führt Kierkegaard auf eine erste ursprüngliche Entscheidung zurück, die deren ethische Wahrheitsbedingung ist: Jede bestimmte Entscheidung zwischen diesem oder jenem muss zunächst die Wahl seiner selbst sein, ohne die es kein bewusstes und verantwortliches Leben gibt, „denn wenn die Leidenschaft der Freiheit in ihm erwacht ist – und dieselbe ist in der Wahl erwacht, wie sie sich gleicherweise in der Wahl selber voraussetzt –, dann wählt er sich selber und kämpft um diesen Besitz wie um seine Seligkeit, und es ist auch seine Seligkeit“. Jeder äußerlichen Wahl muss eine innere Wahl vorausgehen, bei der es darum geht, eine Geschichte anzunehmen, die zugleich individuell und familiär ist, die uns sogar vorausgeht und wie eine schlecht verschlossene Wunde nässt: Fehler, Lügen, Verletzungen, Benachteiligungen, Prägungen durch Vater und Mutter – all diese narrativen Stränge, die uns von Anfang an binden.

Das, was man ist, erscheint zunächst wie ein unentwirrbares Knäuel: Ich bin in diesem Land, in dieser Familie geboren und so weiter; ich bin auch mit bestimmten körperlichen oder psychologischen Eigenschaften geboren, die das Feld der Möglichkeiten von Beginn an einschränken. Wie Kierkegaard in seinen bemerkenswerten Tagebüchern eingesteht, litt er an einer psychosomatischen Krankheit, die sein Verhältnis zur Welt und zu den anderen belastete. Welche? Keiner wird es je erfahren. Aber da ist eben das, was mir mitgegeben wurde, und da ist paradoxerweise das, was ich aufgefordert werde zu wählen – indem ich es mir zu eigen mache und meine Verantwortung dafür anerkenne. Sodass ich endlich sage: „Das ist meine Geschichte.“ Diese Wahl ist keine Erschaffung seiner selbst aus dem Nichts. Vielmehr heißt es, das zu wählen, was unter bestimmten Bedingungen gegeben ist, das sich jedoch allein durch den Umstand verwandelt, dass man es gewählt hat. Echte Freiheit ist nicht das Sich-Losreißen, sondern ein Sich-Beugen des Seins, eine freiwillige und damit schmerzliche Geste. Und das Beugen gibt unserem ethischen Leben bereits seine charakteristische Form, die den Gedanken Lügen straft, man könne schließlich irgendetwas wählen und absolut frei sein. „Die Wahlfreiheit zu steigern, heißt, die Freiheit zu verlieren“, schreibt Kierkegaard mysteriös. Die Illusion der Selbstbestimmung, die Illusion, dass uns tausend Wege offenstünden, die wir alle genauso einschlagen könnten, erfüllt uns mit leichter Angst, die uns letztlich dazu bringt, uns auf uns selbst zu verpflichten.

 

Lob der Ehe

 

Eine besondere Entscheidung scheint jedoch alle anderen an Achtbarkeit zu übertreffen, sodass sie von Kierkegaard als „höchstes Ziel“ im Leben des Individuums dargestellt wird. Die Entscheidung der Entscheidungen, an der sich Kritiker wegen ihrer kleinbürgerlichen Seite störten, findet heute zu einer paradoxen Aktualität zurück – es scheint sogar, als läge unter anderem darin die große Modernität von Kierkegaard. Die Rede ist von der Ehe. Warum spielt sie eine so zentrale Rolle in seinem Werk? Erste Antwort: weil die Ehe das Unmittelbare des Liebesgefühls in den Beschluss verwandelt, immer zu lieben und dabei Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Natur vereint. Sie verleiht dem individuellen Leben einen Rhythmus: eine sich wiederholende Struktur, die Veränderungen nicht ausschließt, sondern ihnen Sinn gibt. Dass man heute gegen die Homoehe im Namen eines anthropologischen, psychologischen oder soziologischen Wissens argumentiert, hätte Kierkegaard zum Schmunzeln gebracht – hatte er sich doch schon damals über die allgemein angegebenen Gründe zum Heiraten lustig gemacht, wie etwa den, zum Fortbestand der Gattung beizutragen. Die äußerlichen Gründe höhlen den ethischen Wert der Ehe aus. Der Bund der Ehe kann sein Prinzip nicht außerhalb seiner selbst haben, in der Gesellschaft oder im Gesetz, nicht einmal im Wunsch, Kinder zu haben. Er ist in erster Linie die Vollendung eines Lebens, das sich zu ewiger Bestimmtheit entscheidet.

Aber das ist nur die halbe Wirklichkeit des Ehelebens: ein Versprechen, das jeder der Ehepartner innerlich einhält. Nun ist die Ehe nicht nur eine Verpflichtung für sich, sondern auch gegenüber anderen, darum wird die erste Antwort durch eine zweite ergänzt: Die verpflichtende Entscheidung für die Liebe ist die einzige innere Entscheidung, die man im Äußeren sieht, ohne den Umweg über Zeichen oder Symbole. Das Intime wird ab dem Augenblick sichtbar, wo dieses Intime zur kontinuierlichen und gegenseitigen Bereitschaft wird. Die Ehe ist nicht nur ein gelebtes Gefühl, sie wird von dem immanenten Bedürfnis geleitet, sich zu manifestieren. Dadurch wird das Leben der Ehepartner transparent und gibt sich offen preis. Als Philosoph, den das grundlegende Geheimnis jeder Existenz interessierte, meint Kierkegaard im Eheleben zugleich eine mögliche Versöhnung zwischen Innerem und Äußerem zu erkennen. In gewisser Weise ist die gelebte Ehe im Leben des Individuums das Äquivalent zu Hegels Vollendung der Geschichte. Man sollte die bemerkenswerten Gedanken des Gerichtsassessors Wilhelm über sein „häusliches Leben“ in Entweder – Oder lesen, eine regelrechte Phänomenologie des Heims: Flüchtig Wahrgenommenes, angedeutete Gesten färben die Stimmung der Orte und Momente des Tages. Die Innerlichkeit zeigt sich nur, wenn sie geteilt wird.

Noch eine letzte wichtige Bemerkung: Kierkegaard selbst hat nicht geheiratet. Gelächter? Der junge Absolvent der Universität Kopenhagen brach die Verlobung mit dem jungen Mädchen, das er liebte, zum größten Leidwesen des lokalen Establishments und der Angebeteten, die beinahe zu einer neuen Ophelia geworden wäre. Wie Jean-Paul Sartre diesmal ganz richtig schrieb, gibt Kierkegaard „regressive Rätsel“ auf, die sich fortwährend an den Merkwürdigkeiten seines Lebens und seiner Entscheidungen stoßen und die Neugierigen zum Rückzug zwingen. Teilhaben kann man letztlich nur an der leidenschaftlichen Geste, mit der sich ein Individuum innerlich eine Idee aneignet und sich schließlich von ihr verändern lässt. Beim Versuch, Kierkegaard zu verstehen, kehren wir zu uns selbst zurück. •

Übersetzt von Grit Fröhlich

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