Was ist wahre Freundschaft?
Es ist bekanntlich nicht wichtig, viele Freunde zu haben, solange es die richtigen Freunde sind. Doch woran erkennt man die? Drei Antworten von Michel de Montaigne, Immanuel Kant und Hannah Arendt.
Michel de Montaigne
(1533–1592)
„Wahre Freundschaft ist Verschmelzung“
In seinem Essay Über die Freundschaft beschreibt Montaigne die wahre Freundschaft als absolute Einheit zweier Menschen und mahnt: „Dass man mir die gewöhnliche Freundschaft ja nicht auf die selbe Stufe stelle!“ Gewöhnliche Freundschaft entstünde nämlich aus einer Zweck-Nutzen-Logik heraus. Dagegen würden wir wahre Freunde nicht aufgrund ihrer hilfreichen oder liebenswerten Eigenschaft wählen, sondern um ihrer selbst willen. In einer so bedingungslosen Freundschaft verschmelzen zwei Personen zu einer Seele und einem Willen so, dass „sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie eint“. Und da wahre Freunde ein Teil des eignen Ichs werden, kann man ihnen mindestens genauso vertrauen wie sich selbst.
Immanuel Kant
(1724–1804)
„Freunde können über (fast) alles reden“
Kant unterscheidet drei Arten der Freundschaft: die des Nutzens, des Geschmacks und der Gesinnung, wobei er Letztere als die wichtigste einschätzt. Freunde mit gleicher Gesinnung haben nicht die gleiche Meinung, sondern die gleichen Prinzipien. Weil sie sich auf das Wohlwollen des anderen verlassen können, vertrauen wahre Freunde sich einander an und können steife Höflichkeiten hinter sich lassen. Ihr offener Austausch wird zur „Zuflucht“ in einer Welt, in der wir anderen oft misstrauen. Ein Mindestmaß an Diskretion sieht Kant aber selbst hier geboten: „Man muß sich seinem besten Freunde nicht so entdecken, als man natürlich ist und sich kennt, denn sonst würde das ekelhaft sein.“
Hannah Arendt
(1906–1975)
„Wahre Freundschaft ist politisch“
Für Hannah Arendt zeigt sich der Wert einer Freundschaft im Gespräch. Wahre Freunde reden weniger über ihr privates Seelenleben als über die Welt, die sie miteinander teilen. Und insofern es in Gesprächen zwischen Freunden um die geteilte Welt und ihre gemeinsamen politischen Anliegen geht, ist auch ihre Freundschaft politisch. Das bedeutet zum einen, dass sie eine Grundlage für politisches Handeln bietet: Aus Freundschaft kann Komplizenschaft entstehen. Zum anderen hilft der Austausch mit Freunden dabei, die Welt besser zu verstehen und seine Meinung zu schärfen. Ob die politische Freundschaft auch immer harmonisch ist, ist für Arendt zweitrangig. Denn wahre Freunde müssen sich nicht gleichen, solange sie im Diskurs zueinanderfinden und die Haltung ihres Gegenübers respektieren. •
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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