Manuel Scheidegger: „Die Allgegenwart von Werbung zeigt, dass sie meistens wirkungslos ist“
Sonntagnacht findet der Super Bowl statt, der auch für die Werbeindustrie ein Jahreshöhepunkt ist. Der ehemalige Werber und Philosoph Manuel Scheidegger erklärt im Interview, wie sich die Clips dieses Jahrs von vorherigen unterscheiden und warum Adorno mit seiner Kritik an Reklame falsch lag.
Herr Scheidegger, am Sonntag findet in Florida der Super Bowl statt, in dessen Unterbrechungen Unternehmen traditionell besonders aufwändige und teure Werbespots schalten. Inwiefern hat sich die Pandemie auf die Ästhetik der bereits veröffentlichten Clips ausgewirkt?
Inwiefern die Corona-Erfahrung Auswirkungen auf die Entwicklung von ästhetischen Formen haben wird, ist eine spannende Frage. In den Werbespots sehe ich noch keinen Einfluss. Die Videos im Hochglanzlook sind noch immer 30 Sekunden bis eine Minute lang und haben einen Spannungsbogen, an dessen Ende eine lustige Pointe steht, die meist auch eine Kaufempfehlung ist. Deutliche Spuren hat die Pandemie allerdings auf der inhaltlichen Ebene hinterlassen. Wie selten zuvor stehen Szenen des privaten Lebens im Zentrum, die bei näherer Betrachtung allerdings den Hintergrund bereiten, um große, sehr allgemein gehaltene Themen wie Glück oder Hoffnung zu verhandeln. Prototypisch für diese Herangehensweise ist für mich der Clip der Budweiser-Brauerei, die während des Superbowls eine neue Zitronenlimonade bewerben wird.
Was zeigt dieser Clip?
Im Grunde baut er auf dem Kalenderspruch auf „Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach Limonade draus“. Budweiser spitzt das Ganze allerdings noch etwas zu, indem gesagt wird: 2020, das war als ganzes Jahr, so sauer wie eine Zitrone. Im Clip gibt es entsprechende Rückblenden zu Situationen, in denen ein Schauer aus Zitronen schöne Momente wie Hochzeiten im wahrsten Sinne des Wortes verhagelt. Der Spot funktioniert erstaunlich ironisch: „Wann hat Bud Light eigentlich begonnen, Limonaden herzustellen?“ Die Antwort: „Wahrscheinlich nach dem sauren letzten Jahr.“ Als am Ende des Spots ein Partygast zum Kalenderspruch ansetzt, blitzt er bei seinen Freund:innen ab. Die Botschaft lautet wohl ungefähr: Machen wir uns nichts vor. Das Jahr war bitter. Immerhin gibt es ab und zu einen süßen Zuckerboost.
Schon seit einiger Zeit zeichnen sich Werbeclips durch Spannungsbögen aus, die jenen von Kurzfilmen nicht unähnlich sind. Ein prominentes Beispiel ist Bob Dylans Auftritt in einem Clip des Unterwäscheherstellers Victoria‘s Secret. Sehen sie darin eine Gefahr, da die Botschaften so noch überzeugender werden und eine noch größere manipulative Kraft gewinnen?
Damit sprechen Sie eine Perspektive auf Werbung an, die jener des Philosophen Theodor W. Adornos ähnlich ist. Er verstand „Reklame“ als bloßes Instrument der Manipulation, die Menschen Dinge konsumieren lässt, die sie nicht brauchen und eigentlich auch nicht wollen. Werbung war für ihn der Inbegriff des „Verblendungszusammenhangs“. Allerdings halte ich diese Sichtweise für verkürzt, da Adorno an dieser Stelle ein Medienbild vertrat, das die Komplexität unseres Umgangs mit Medien stark unterbelichtet. Wären Menschen tatsächlich so leicht manipulierbar, wie Adorno meinte, wäre das Geschäft mit der Werbung ein sehr einfaches, da jede Botschaft eine klar zu steuernde Kaufentscheidung auslösen könnte. So allerdings ist es nicht.
Sondern?
In der Realität haben wir in der Regel die Möglichkeit auf „Werbung überspringen“ zu klicken oder umzuschalten, wenn uns die Werbebotschaften zu sehr nerven. Und das ist auch enorm wichtig, denn wenn Werbung nicht die Möglichkeit bietet, sie nicht zu konsumieren, indem sie als Werbung ausgewiesen ist, handelt es sich nicht mehr um Werbung, sondern tatsächlich um versuchte Manipulation. Eine Beeinflussung also, ohne dass man diese als solche wahrnehmen und sich dagegen wehren kann. Würde Werbung als Reiz kausal einen Kaufimpuls hervorrufen, müsste sie tatsächlich verboten werden. Allerdings zeigt ja gerade die Allgegenwart von Werbung, dass sie meistens wirkungslos ist. Ich würde mich allerdings noch entschiedener gegen Adorno stellen und sagen, dass Werbung sogar positive Effekte auf die Gesellschaft haben kann.
Denken Sie beispielsweise an den Clip des Rasierapparat-Herstellers Gillette, der sich gegen ein toxisches Männlichkeitsbild stellte?
Das wäre ein Beispiel, ja. Ein aktuelleres ist der Clip der Schnellrestaurantkette Chipotle, der während des Superbowls gezeigt werden wird und fragt, ob ein Burrito die Welt verändern kann. Adorno würde sicher nein sagen. Die Antwort von Chipotle lautet natürlich ja, insofern „wir unsere Zukunft gestalten, wie Chipotle seine Burritos fertigt“: fair, nachhaltig und dennoch zu einem erschwinglichen Preis. Werbung kann also eine Art von Selbsterklärung sein, an der man Firmen messen kann und die die Konkurrenz vor dem öffentlichen Auge in Zugzwang bringt.
Sie selbst waren während Ihres Philosophiestudiums in der Werbung aktiv. Können sich denn heutige Philosophinnen und Philosophen etwas von Werbetreibenden abschauen?
Ich glaube nicht, dass wir uns etwas von der Werbung abschauen müssen, da bereits Kant wusste, dass ein gelungener Vortrag eine „schulgerechte, logisch vollkommene Erkenntnis durch die ästhetische Form popular zu machen“ habe. Er war sich also durchaus der Tatsache bewusst, dass zu jedem tiefen Gedanken eine ansprechende Inszenierung gehört. Ich glaube schlicht, dass die Werbung und die Philosophie in unterschiedlichen Sachen gut sind. Gute Werbung schafft es im besten Fall, den Zeitgeist extrem pointiert zusammenzufassen. Denken Sie nur an den Slogan von Ebay „3, 2, 1 meins!“, der den Enthusiasmus einer ganzen Dekade für das schnelle Bieten und Besitzen von Waren unmittelbar fassbar machte. Philosophie hingegen kann zum einen vor diesen Zeitgeist zurückgehen und fragen, warum wir bestimmte Werte vertreten und bestimmten Idealen folgen. Und zum anderen tiefer gehen und kritisch fragen, ob sich die Gesellschaft in eine wünschenswerte Richtung bewegt, wenn wir diesem Zeitgeist weiter die Treue halten. Dafür hat Werbung keine Zeit, denn da kommt schon der nächste Spot. •
Manuel Scheidegger studierte Philosophie und arbeitete u.a. in der Werbung. Mit seinem Unternehmen Argumented Reality inszeniert und moderiert er zudem Events zu aktuellen Themen wie Artificial Intelligence, Nachhaltigkeit oder Diversity.
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