Michael Butter: „Früher stellten Verschwörungstheorien eine anerkannte Form des Wissens dar“
Verschwörungstheorien scheinen dieser Tage allgegenwärtig. Der Literaturwissenschaftler Michael Butter erläutert im Gespräch, warum sie in der Vergangenheit jedoch viel verbreiteter waren, weshalb sie gerade in der Aufklärung Konjunktur hatten und wie man im persönlichen Umfeld auf sie reagieren sollte.
Philosophie Magazin: Herr Butter, laut einer aktuellen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Herbst 2020 ist etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung „offen für Verschwörungstheorien“. In den USA ist es sogar die Hälfte. Leben wir im „goldenen Zeitalter“ von Fehl- und Missinformation?
Diesen Befund würde ich aus dreierlei Gründen zurückweisen. Erstens hält er einer historischen Betrachtung nicht Stand. Denn auch wenn wir keine quantitativen Studien aus dem Jahr 1921 oder 1821 zur Frage haben, wie weit Verschwörungstheorien in der Gesellschaft verbreitet waren, hingen damals sicher über 90 Prozent der westlichen Welt solchen vermeintlichen Erklärungen an. Und zwar schlicht aus dem Grund, weil Verschwörungstheorien eine anerkannte Form von Wissen darstellten. Zweitens mag ein Drittel erst einmal erschreckend viel klingen, allerdings ist diese Zahl seit einigen Jahren relativ konstant und hat sich auch durch die Pandemie kaum verändert. Das legt eine Art Obergrenze für unsere Zeit nahe. Und drittens muss man sich genau anschauen, was „offen für Verschwörungstheorien“ tatsächlich bedeutet. Denn es bedeutet sicherlich nicht, dass jeder dritte Bundesbürger sein Leben nach Verschwörungstheorien ausrichtet. Diese Zahl bildet ein breites Spektrum von Menschen ab, an dessen Ende knallharte Verschwörungstheoretiker stehen, die aber nur etwa zehn Prozent dieses Drittels ausmachen. Am anderen Ende befinden sich wiederum Leute, die schon irgendwie glauben, dass an den Theorien was dran sein könnte, ihr Leben aber praktisch unberührt von diesen führen.
Woher kommt dann aber das weit verbreitete Gefühl, dass Verschwörungstheorien heute so präsent sind wie selten zuvor?
Dass wir Verschwörungstheorien heute überall wahrnehmen, liegt daran, dass sie uns als Problem auffallen. Heute handelt es sich bei dieser Form also um Wissen, das nicht mehr als allgemein anerkanntes gesehen, sondern als Pseudowissen stigmatisiert wird. Hier ist also ein mentaler Mechanismus am Werk, den man auch in vielen anderen Bereichen wahrnehmen kann. Nehmen sie beispielsweise Sexismus. Vor 100 Jahren gab es zum Thema de facto keinen gesellschaftlichen Diskurs. Und das lag nicht daran, dass die Gesellschaft damals weniger sexistisch war, sondern im Gegenteil, weil es praktisch nicht auffiel, dass nahezu alle sexistisch agierten. Man hat den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Heute ist der Sexismus natürlich leider noch immer nicht verschwunden, allerdings befinden wir uns doch in einer grundlegend anderen Situation. Wir reden glücklicherweise viel und breit darüber. Allerdings wäre es wiederum absurd, aus diesem Befund abzuleiten, dass unsere Gesellschaft sexistischer geworden wäre. Das Gegenteil ist richtig: Weil wir für diese Arten von Grenzüberschreitung sensibler sind, sprechen wir darüber. Mit Verschwörungstheorien verhält es sich ganz ähnlich: Weil wir sie heute als problematisch empfinden, kommen sie uns allgegenwärtig vor.
Wenn es Verschwörungstheorien schon lange gibt und sie früher sogar noch weiter verbreitet waren, worin besteht dann ihre gesellschaftliche Funktion?
Bevor Verschwörungstheorien als stigmatisiertes Wissen galten, glaubten Menschen einfach an sie, weil so viele es taten. Man widersprach nicht, wenn die Kirche davon ausging, dass die Erde flach ist, und auch alle anderen dieser Ansicht waren. Seit der Stigmatisierung dieses Wissens als Pseudowissen halten Menschen allerdings aus zahlreichen anderen Gründen an diesen Erklärungen fest. Erstens machen Verschwörungstheorien die Welt verstehbar und – was ebenso wichtig ist – bedeutsam. Dadurch, dass Verschwörungstheorien Zufall ausschließen und als einzige Ursache das menschliche Handeln gelten lassen, kann man sich gewisse Ereignisse vermeintlich leichter erklären. Aus diesem Grund war auch die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert eine Epoche, in der Verschwörungstheorien florierten wie selten zuvor.
Dabei hielten doch gerade die Aufklärer Rationalität und Vernunft als zentral für ein Verständnis der Welt hoch.
Richtig, auf der einen Seite verwarf man damals tatsächlich die Idee, dass Gott die Fäden des Kosmos in der Hand hält, und schrieb der Wissenschaft eine größere Erklärungskraft als der Religion und dem Okkultismus zu, war aber auf der anderen Seite noch nicht so weit, Zufall, Chaos und Kontingenz akzeptieren zu können. Die Lösung für diese Misere bestand dann darin, alles durch menschlichen Einfluss zu erklären. Ein Topos, der auch heute in Verschwörungstheorien noch weit verbreitet ist. Etwas Unerklärliches passiert und Menschen werden dafür verantwortlich gemacht. Denken Sie nur an die Verschwörungstheorie, dass Covid-19 eine Erfindung sei. Zweitens lassen sich durch Verschwörungstheorien schnell Sündenböcke finden. Das entlastet und entbindet von eigener Verantwortung. Drittens transportieren Verschwörungstheorien einen gewissen Optimismus. Wenn für alles, was passiert, keine abstrakten und teils schwer festzumachenden Prozesse, sondern Menschen verantwortlich sind, kann man letzteren, so mächtig sie auch sein mögen, das Handwerk legen und dadurch selbstwirksam alles zum Besseren wenden. Und viertens kann man sich durch Verschwörungstheorien schließlich auch aus der Masse herausheben, weil man sich als jemand stilisieren kann, der mehr verstanden hat, kritischer ist und einfach besser Bescheid weiß als der Rest. Man ist in seiner Selbsterzählung eben kein „Schlafschaf“, sondern ein „kritischer Geist“ und „fragt ja nur nach“, weil über dieses oder jenes ja „kaum gesprochen wird“.
Nun gibt es einige Verschwörungstheorien wie QAnon, die zu Gewalt führen können, wie es sich zuletzt durch den Sturm auf das Kapitol zeigte. Steckt dieses Potenzial in allen Verschwörungstheorien?
Nicht jede Verschwörungstheorie und nicht jeder Verschwörungstheoretiker ist gefährlich. So ist mir beispielsweise niemand bekannt, der zu einer Waffe griff, weil er die Mondlandung für erfunden hält. Allerdings verhält sich das natürlich mit anderen Theorien grundlegend anders. Und so sollte man sich immer genau den Kontext vor Augen führen und drei Dimensionen unterscheiden, durch die Verschwörungstheorien gefährlich werden können. Erstens können Verschwörungstheorien ganz konkret für das Leben jener Menschen gefährlich werden, auf die sie sich richten. Das können Eliten oder marginalisierte Gruppen sein. Erstere sind meist gut geschützt, wohingegen gewaltbereite Verschwörungstheoretiker beispielsweise an die Besucher einer Moschee gut herankommen. Hier muss man also sehen, ob sich die Theorie „nach oben“ oder „nach unten“ richtet und die Gefahr entsprechend kalkulieren. Zweitens können sie als Katalysator für politische Radikalisierung funktionieren, was wiederum zu Gewalt führen kann. Beispiele hierfür haben wir leider in letzter Zeit häufig gesehen. Denken Sie nur an Christchurch, Halle und den bereits angesprochenen Sturm auf das Kapitol. Die dritte Art der Gefährdung ist besonders bei medizinischen Verschwörungstheorien gegeben, weil man sich selbst und andere in Gefahr bringt, indem man etabliertes medizinisches Wissen leugnet und als Teil eines Komplotts abtut.
Das sehen wir aktuell, wenn sich Menschen nicht selbst durch Maske und Abstand schützen, richtig?
So ist es. Und viertens können Verschwörungstheorien natürlich auch eine Gefahr für die Demokratie sein, indem sie Misstrauen in demokratischen Verfahrensweisen wie Wahlen schüren. So kann es dazu kommen, dass eine kritische Masse von Menschen ein System aufgrund falscher Annahmen ablehnt und es im Zweifelsfall wiederum mit Gewalt zu stürzen oder zumindest zu unterwandern bereit ist.
Wie sollten die Medien Ihrer Meinung nach mit Verschwörungstheorien umgehen?
Sicherlich kann man sagen, dass viele Journalisten den sogenannten „Hygienedemonstranten“ im März und April letzten Jahres zu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das liegt allerdings nicht an den einzelnen Publikationsorganen, sondern ist im System begründet, in dem wir aktuell leben. Denn schlussendlich ist selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk abhängig davon, dass Menschen klicken, teilen und lesen. Und im März letzten Jahres, als das Leben komplett heruntergefahren war, waren diese Demonstrationen eben eine der wenigen Ereignisse, mit denen sich die nötige Aufmerksamkeit generieren ließ. Zur Verteidigung der Medien ist allerdings auch zu sagen, dass die Berichterstattung über Verschwörungstheorien in den letzten Jahren differenzierter geworden ist. Allerdings sind die Medien natürlich noch immer einer Ökonomie der Aufmerksamkeit verpflichtet. Sie können über QAnon nicht so berichten, wie es für ein effektives Debunking, eine Widerlegung am sinnvollsten wäre. Nämlich zuerst einige Absätze lang erklären, wie das politische System der USA funktioniert und dass die meisten Politiker keine schlechteren Menschen sind als der Rest der Amerikaner, dann kurz skizzieren, was QAnon-Verschwörungstheorien behaupten, diese knapp widerlegen und nochmal die Fakten wiederholen. So einen Artikel würde niemand lesen. Daher muss mit den absurden Behauptungen begonnen werden.
Ist dies Methode der Einklammerung von verschwörungstheoretischen Inhalten auch gegenüber Freunden und Verwandten zu empfehlen?
Hier gilt es zunächst abzuschätzen, wie tief die Person sich bereits in diese Erklärungsversuche eingearbeitet hat. Bei wirklich überzeugten Verschwörungstheoretikern kommt man mit Fakten nicht weiter, sondern verschlimmert die Situation sogar oft noch, weil sich die Menschen dann als Opfer empfinden, deren Meinung nicht gehört wird. Sie sehen sich also in ihrer Einstellung bestätigt. Wenn jemand wirklich tief drin ist, kommt er oder sie da nur ganz schwer wieder raus. Wenn man es aber mit jemandem zu tun hat, der oder die mal eine krude Website weiterschickt und eigentlich auch ein bisschen auf die Reaktion wartet, sind die folgenden zwei Schritte oft recht erfolgreich: Erstens sollte man verständnisvoll sein und deutlich sagen, dass man diese Ansichten nicht teilt, und dass diese Informationen nachweisbar nicht verlässlich sind. Anschließend kann man in gemäßigtem Ton ein paar andere Seiten heranziehen, die eine andere Sicht vertreten. Wenn das auf eine gute Resonanz stößt, kann man sich in ein Gespräch begeben und vermitteln, dass kritisches Nachdenken eine gute Eigenschaft ist, die Kritik allerdings als inhaltsleer verpufft, wenn sie im Gewand einer Verschwörungstheorie geäußert wird.
Das heißt: Im Kern machen einige Verschwörungstheorien richtige Punkte, die sie aber falsch kommunizieren?
In einigen Fällen würde ich das sagen, ja.
In welchen zum Beispiel?
Nehmen sie die Verschwörungstheorien um die Anschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001. Wir alle sind zumindest im Ansatz vertraut mit der Theorie, dass die Regierung selbst es war, die die Anschläge geplant und durchgeführt haben soll, um den „War on Terror“ zu legitimieren und eine schärfere Sicherheitspolitik durchzusetzen. Das Prekäre an dieser Theorie ist, dass die Regierung die Anschläge tatsächlich auf zynischste Weise ausgenutzt hat, sie aber natürlich nicht selbst an diesen beteiligt war. Dafür gibt es keine Beweise und das musste sie offensichtlich auch nicht. In dieser Verschwörungstheorie wird also ein valider Kritikpunkt geäußert, der allerdings sehr leicht abgetan werden kann, weil er sich nicht belegen lässt. Wer diese Theorien einer fundierten Kritik vorzieht, delegitimiert den eigenen Standpunkt.
Sie sprechen durchgängig von „Verschwörungstheorien“. Von manchen wird allerdings vorgeschlagen, doch besser von „Verschwörungsideologien“, „-narrativen“ oder „-mythen“ zu sprechen. Keine gute Idee?
Ich bin ein großer Verfechter des Begriffes „Verschwörungstheorie“, weil dem Vorschlag von Ideologien, Narrativen oder Mythen zu sprechen, je gute Gründe entgegenzuhalten sind. Zunächst kann man nämlich sagen, dass es sich beim Begriff „Theorie“ nicht um ein Qualitätsurteil handelt, wie manche denken. Anders als das Wort vielleicht manchmal im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet und verstanden wird, fassen analytische Philosophen unter „Theorie“ nichts weiter als eine Antwort auf eine Warum-Frage, die sich aus einem System von Wissen ergibt, das sich aufeinander bezieht. Ob dieses System die Frage überhaupt – und wenn ja: gut oder schlecht – beantworten kann, steckt nicht im Wort „Theorie“. Zudem erzeugen die anderen Vorschläge jeweils selbst mehr Probleme, als sie lösen. Wer von „Verschwörungsmythen“ spricht, macht einen Unterschied zwischen Mythos und Logos auf und tut so, als ob alles, was nicht Verschwörungstheorie ist, die Wahrheit sei. Ähnlich verhält es sich auch mit Verschwörungsideologie, da natürlich auch nicht-verschwörungstheoretische Inhalte ideologisch gefärbt sein können. Zudem macht der Begriff Verschwörungstheorie deutlich, dass sich diese Erklärungsversuche nicht in vielen, jedoch entscheidenden Punkten von wissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden.
Die da wären?
Oft wird die Falsifizierbarkeit als das Kriterium genannt, dass eine Verschwörungstheorie von einer wissenschaftlichen unterscheidet. Ich halte das für falsch, denn auf der einen Seite lassen sich natürlich viele Verschwörungstheorien durch Fakten entkräften und auf der anderen Seite können wir nicht alle Theorien in den Sozialwissenschaften falsifizieren. Das Problem ist vielmehr, dass Verschwörungstheoretiker die Falsifikation nicht akzeptieren, Wissenschaftler allerdings in aller Regel schon. Und hier liegt der Unterschied zwischen Wissenschaft und Verschwörungstheorie: Offen sein für neue Erkenntnisse und die eigenen Überzeugungen bereitwillig umbauen, wenn diese nicht mehr zu halten sind. Diese Fähigkeit könnte man tatsächlich „woke“ (wach, aufmerksam) nennen. •
Michael Butter lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitet ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien. Sein Buch zum Thema des Gesprächs „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“ (Suhrkamp, 2018) war ein Bestseller.