Direkt zum Inhalt
Menu Top
    loginAnmelden shopping_basketHefte kaufen assignment_addAbonnieren
Navigation principale
  • Startseite
  • Impulse
  • Essays
  • Dossiers
  • Gespräche
  • Hefte
  • Sonderausgaben
  • Philosophen
  • Begriffslexikon
  • Bücher
rechercher
 Philosophie Magazin - Impulse für ein freieres Leben
Menu du compte de l'utilisateur
    loginAnmelden shopping_basketHefte kaufen assignment_addAbonnieren
Navigation principale
  • Startseite
  • Impulse
  • Essays
  • Dossiers
  • Gespräche
  • Hefte
  • Sonderausgaben
  • Philosophen
  • Begriffslexikon
  • Bücher
Tag - Body
Tag - Body

Bild: camilo jimenez (Unsplash)

Interview

Michael Seemann: „Plattformen machen Kapitalisten zur austauschbaren Infrastruktur“

Michael Seemann, im Interview mit Nils Markwardt veröffentlicht am 30 Juni 2021 13 min

Der Kulturwissenschaftler Michael Seemann hat mit seinem neuen Buch eine Theorie der Plattform vorgelegt. Im Interview argumentiert er, warum der Datenschutz die Macht von Facebook & Co sichert, letztere ein post-individuelles Kontrollregime bilden und wir einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit erleben. 

 

Herr Seemann, immer wenn ich mich auf Facebook einlogge, mache ich mehr oder weniger die gleiche Erfahrung: Mir werden vier Tage alte Posts angezeigt, die mich nicht interessieren und die von Menschen sind, die ich nicht kenne. Und jedes Mal frage ich mich: Warum bietet Facebook trotz seiner Größe und Macht so rumpelige User-Experience und wurde nicht längst von einem besseren Mitbewerber vom Markt gefegt. Haben Sie eine Antwort darauf?

Dafür gibt es womöglich zwei Erklärungen. Die erste besteht darin, dass die Fähigkeiten algorithmischer Steuerung generell überschätzt werden. In diesem Bereich gibt es enorme Übererwartungen, sowohl in die positive als auch negative Richtung. Zum Zweiten stimmt es sicher auch, dass Facebook längst nicht so gut ist, wie es sein könnte. Dass die Plattform dennoch so erfolgreich ist, liegt zunächst einmal schlicht daran, dass sie der größte Dienst ist. Will man sich mit anderen vernetzen, so sind diese Menschen meist bereits auf Facebook. Oder anders formuliert: Es sind so viele Menschen auf Facebook, weil so viele Menschen auf Facebook sind. Facebook hat also schlicht das, was ich Netzwerkmacht nenne.

Auf diese Form der Netzwerkmacht werden wir noch zurückkommen. Aber zunächst grundsätzlicher: Sie definieren in Ihrem Buch Die Macht der Plattformen Letztere als „erwartete Vorselektionen, die unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen wahrscheinlicher machen.“ Was ist das Zentrale an dieser Definition?

Wichtig ist, dass es zwei Ebenen gibt. Die untere Basisebene, die erwarteten Vorselektionen, besteht zum Beispiel aus Schnittstellen, Standards oder Algorithmen. Weil sie erwartbar sind, verlassen sich Menschen darauf und knüpfen durch sie ihre Verbindungen. Die bilden dann die zweite Ebene, die konkreten, aber unerwarteten Anschlussselektionen. Das Prinzip besteht also darin, dass abstrakte Erwartung kontingente Koordination ermöglicht. 

Beim Begriff der Plattform denkt man zumeist „nur“ an Diensteplattformen, etwa Spotify oder eben Facebook. Tatsächlich findet man bei Plattformen aber oft eine Stapelstruktur. Das heißt beispielsweise, dass die Plattform Facebook auf anderen Plattformen aufsetzt, etwa Betriebssystemen wie iOS oder Android, die wiederum ihrerseits auf andere Plattformen wie das World Wide Web aufsetzen.

Ich versuche in meinem Buch das Koordinationsparadox zu entfalten, wonach gelungene Koordination bereits Koordination voraussetzt. Aus diesem Paradox heraus erklärt sich auch die Stapelstruktur. Um Koordination auf einer höheren Ebene zu erreichen, muss man bereits über Koordination auf einer unteren Ebene verfügen. Deshalb kann sich diese Zweischichtigkeit der Plattformen immer weiter aufaddieren. Plattformen können sich horizontal ausdehnen, indem sie etwa immer mehr Leute einschließen. Das passiert beispielsweise dann, wenn Facebook mehr User gewinnt. Durch das Stapelprinzip können sich Plattformen aber auch vertikal ausdehnen, indem sie von neuen Plattformen überwölbt werden oder sich selbst erweitern. Ich nenne das vertikale Iteration. Nehmen Sie das iPhone, auf dem dann die Facebook-App läuft, während auf Facebook wieder andere Applikationen aufsetzen konnten wie Spiele. Man muss also immer beide Ebenen von Plattformen in den Blick nehmen, um ihr strategisches Agieren als auch ihre Integration in den Kapitalismus zu verstehen.

Sind Plattformen durch diese Doppelstruktur dann eine Art Hybrid aus Markt und Staat?  

Man kann bei Plattformen sowohl markt- als auch staatsförmige Elemente finden, wird ihnen aber auch nicht gerecht, wenn man sie einfach als Mischung beider beschreibt. Plattformen offenbaren ein ganz eigenes Strukturparadigma, das auch als solches verstanden werden muss. Was aber stimmt: Während im Kapitalismus die Kontrollmacht des Staates das Eigentumsparadigma durchsetzt, können Plattformen ihre eigene Kontrollmacht einsetzen, um Zahlungen zu erzwingen. So sind Plattformen auf die Kontrollmacht des Staates gar nicht mehr angewiesen, weil sie jede Interaktion technisch unter Bedingungen stellen können. Das heißt nicht, dass der Kapitalismus abgeschafft wurde, aber es zeigt, dass Plattformen eigene politische Ökonomien sind, die die Märkte überwölben und in ihre Strukturen integrieren. Nehmen Sie Uber. Die Plattform beschäftigt eine Reihe von Fahrern, die wiederum ihre eigenen Autos – sprich: ihre eigenen Produktionsmittel – mitbringen, weshalb es für Uber gar keine Notwendigkeit gibt, eigene Flotten zu unterhalten. Doch der Besitz der Produktionsmittel bringt den Fahrern noch nichts, da sie abhängig von Ubers Plattform sind, die ihnen erst jene Connections verschafft, damit sie produktiv sein können. Dasselbe sehen wir bei Restaurants und Lieferapps, sogar bei Smartphoneherstellern und Android. Plattformen machen Kapitalisten zur austauschbaren Infrastruktur.

Zeigt sich hier eine Zuspitzung jener Entwicklung, die Naomi Klein bereits 1999 in ihrem Buch No Logo beschrieb, wonach Großkonzerne oft „nur“ noch Ideen, Konzepte und Designs entwickeln, die Produktion dann jedoch sekundär wird und ausgelagert werden kann? Sprich: Im Nike-Headquarter werden die Schuhe nur noch designed, in Bangladesch oder China dann zusammengenäht.

Ja, was ich im Buch beschreibe, ist in dieser Hinsicht nichts fundamental neues, sondern etwas, das in der Debatte um den Kapitalismus vielleicht immer ein bisschen verdeckt war. Nämlich, dass am Ende des Tages derjenige Geld verdient, der an einem strategisch wichtigen Kontrollpunkt sitzt. Das können, wie bei den Plattformen, diejenigen sein, die die Connections managen, bei einem Schuhhersteller wie Nike kann es sich aber auch darin zeigen, dass das einzig wirkliche relevante die Marke und das Image ist, weshalb der Produktionsprozess an Relevanz verliert und austauschbar wird. Man sollte bei wirtschaftlichen Prozessen grundsätzlich viel mehr interdependente Beziehungen und die sich daraus ergebenen Machtstrukturen in den Blick nehmen. Dann versteht man viel besser, wer warum welche Marge nehmen kann. Dementsprechend sollte auch die Resource Dependence Theory viel mehr Aufmerksamkeit erfahren.

Was besagt diese Theorie?

Die Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Pfeffer und Gerald R. Salancik veröffentlichten 1978 das Buch External Control of Organisations, in dem sie gut darlegen, dass Organisationen, ganz gleich ob es sich um Privatunternehmen, Regierungsinstitutionen oder NGOs handelt, zunächst einmal an ihrem Fortbestand interessiert sind und Ziele wie Profitmaximierung dementsprechend sekundär sind. Für diesen Fortbestand ist jede Organisation auf Ressourceninputs angewiesen. Das können Mitarbeiter, Finanzströme, Zahlungen, Kunden, Marktzugänge, Material oder auch politischer Good Will sein. Schaut man sich an, wie Organisationen intern strukturiert sind, sieht man, dass sich diejenigen in herausgehobener Stellung befinden, die dafür prädestiniert sind, die kritischsten und wichtigsten Inputs zu organisieren und deren Flow abzusichern. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle wirtschaftlichen Organisationen ein Netz interdependenter Abhängigkeiten bilden, sieht man, dass es stets bestimmte wunde Punkte gibt, also Abhängigkeiten, die kritischer sind als andere. Im Silicon Valley ist das etwa der Nachschub an talentierten Programmierern.

Sowohl Peter Thiel, ein libertärer Silicon-Valley-Entrepreneur, als auch David Harvey, ein marxistischer Philosoph, haben bemerkt, es sei ein Mythos, dass Kapitalisten den Wettbewerb schätzten. Vielmehr sei es genau andersherum: Jedes Unternehmen strebe danach, ein Monopol zu werden. Zeigt sich das nicht ganz besonders in der Plattformökonomie, wo es zentral darum geht, den Wettbewerb durch eine immer größere Ausdehnung de facto auszuschalten?

Es scheint mir noch ein bisschen komplizierter. Es gibt in der Tat diese Tendenz, dass jeder Unternehmer versucht, ein Monopol herzustellen. Peter Thiel spricht das relativ offen aus. Aber wenn man das in die Interdependenz-Theorie übersetzt, heißt das: Die Akkumulation von Macht resultiert daraus, dass Du erstens die Abhängigkeit anderer von Dir erhöhst und zweitens Deine Abhängigkeit von anderen reduzierst. Ein Kapitalist ist also sehr wohl an Wettbewerb interessiert – aber am Wettbewerb der anderen. Wenn Du drei unterschiedliche Zulieferer hast, die Dir das gleiche Produkt liefern können, hast Du Deine Interdependenz-Vulnerabilität reduziert, bist also nicht mehr abhängig von einem Zulieferer. Diesen Wettbewerb will man, aber nicht den Wettbewerb auf der eigenen Ebene. Dafür sind Plattformen als Geschäftsmodell ideal aufgestellt, noch besser als Nike und die Lieferketten-Ökonomie. Durch ihre vertikale Iteration erheben sie sich über bestimmte Marktstrukturen und können so alles in Konkurrenz zueinander setzen, während sie ihre eigenen Abhängigkeiten gleichzeitig minimieren.

In Bezug auf die Machtausübung von Plattformen bemerken Sie im Buch in Rekurs auf den Philosophen Gilles Deleuze, dass sich hier eine post-individuelle Form der Regierung offenbare. Denn Plattformen interessierten sich eben buchstäblich nicht mehr für das in-dividuum, also das Unteilbare, Einzigartige einer Person, sondern lediglich für das dividuum, für all das, was teilbar, das heißt statistisch verwertbar ist.

Alle sind sich einig, dass Plattformen Macht haben. Denkt man aber darüber nach, welche Art von Macht das ist und wie Plattformen diese gebrauchen, stellt man fest, dass die Narrative dafür sehr stark von klassischen Machtformen geprägt sind, die wir kennen. Allen voran die Macht des Staates, der durch Zwangsregime Territorien regiert, in denen er die Individuen gewissermaßen erzieht. Ein Teil der Missverständnisse im Diskurs über Plattformen rührt daher, dass dieses Machtverständnis eins zu eins auf die Plattformen übertragen wird. Das zeigt sich exemplarisch in Shoshana Zuboffs Theorie vom „Überwachungskapitalismus“. Bei dieser schwingt die Vorstellung mit, dass wir alle freie Individuen waren, bis dann die Plattformen kamen und uns mit ihren Algorithmen manipulierten. Solch ein Narrativ auf Plattformen zu übertragen, ist jedoch ein individualistischer Fehlschluss. Natürlich haben Plattformen Macht, aber diese Macht ist nicht eine der individuellen Manipulation, sondern der aggregierten Steuerung. Die Werbestrategien von Plattformen basieren schließlich darauf, statistische Effekte zu erzielen. Nach dem Motto: Durch die Verbesserung des Algorithmus klicken nun 0,4 Prozent statt 0,2 Prozent der Menschen auf die App. Das ist keine wirkliche Manipulation auf individueller Ebene. Plattformen schauen nicht auf das Individuum, sondern auf Target Groups, entlang von Interessen, Geschlechtern, Aufenthaltsorten usw. Bewertet man bestimmte Handlungen im klassischen Disziplinarregime des Staates, ist jede Form der Abweichung ein potentielles Problem, dem man versucht entgegenzuwirken, um das Individuum wieder einzureihen. Bei den Kontrollregimes der Plattformen kann man jedoch abweichen, wie man will, das ist den Plattformen völlig egal. Niemand versucht dich zu disziplinieren, denn es geht allein um statistische Effekte. Wenn Du Dein Facebook-Konto löschst, ist das Mark Zuckerberg gleichgültig. Erst wenn es eine Menge Leute tun und sich darin Muster zeigen, fängt Zuckerberg an, schlecht zu schlafen.

Ein wichtiges Moment bei der Entstehung von Plattformmacht nennen Sie „Graphnahme“. Was meint das?

Geht man davon aus, dass die Basis der Macht von Plattformen die Netzwerkmacht ist, besteht Akkumulation von Macht vor allem darin, ein Netzwerk unter seine Kontrolle zu bringen. Doch in so einem Netzwerk sind die Verbindungen nie gleich verteilt. Man denke exemplarisch an Popstars und ihre Fans. Guckt man sich an, wie diese miteinander vernetzt sind, findet man eine ungleiche Verteilung. Ganz wenige Knoten, nämlich die Popstars, haben ganz viele Verbindungen, während ganz viele andere Knoten, die Fans, ganz wenige Verbindungen haben. Ähnlich verhält sich die Verteilung in sozialen Netzwerken, wo es bestimmte Verklumpungen gibt, also Leute, die enger mit einigen Menschen verknüpft sind und loser mit anderen. Will man nun ein Netzwerk unter Kontrolle bringen, macht es strategisch Sinn, sich auf diese Verklumpungen zu fokussieren. Man adressiert also nicht zufällig mal diesen und mal jenen, sondern geht gezielt auf bestimmte Cluster. Das erklärt Peter Thiel in seinem Buch Zero to One ziemlich gut: Wenn man klein ist, muss man sich zunächst auf kleine Märkte konzentrieren und von denen aus wachsen. Facebook war dafür das beste Beispiel. Es hat mit dem Harvard-Campus angefangen, ist dann weitergegangen zur Columbia University und dann zu Stanford. Das heißt: Facebook hat erst die Elite-Unis in den Blick genommen, dann alle anderen Unis, sich folgend auf Schüler konzentriert und sich erst dann für alle anderen, den ganzen Graphen geöffnet. Die strategische Konzentration auf ein bestimmtes Cluster und ein davon ausgehendes Wachstum nenne ich Graphname, ein Begriff, den ich von Christoph Engemann übernommen habe. Analog zur Landnahme, die bei Carl Schmitt die Grundlage einer politischen Ordnung ist, setzt die Plattform also eine Graphname voraus, indem bestimmte Beziehungsformen unter die Herrschaft der eigenen Kontrollregimes gebracht werden.

Es gibt klassisches politisches Herrschaftswissen. Unter Philipp II. entstanden im 16. Jahrhundert etwa die neuzeitlichen Bürokratien, die begannen Unmengen an Daten zu sammeln, damit die südamerikanischen Territorien nach der kolonialen Landnahme von Madrid aus fernverwaltet werden konnten. Lassen sich die Informationen, die bei einer Graphnahme durch eine Plattform entstehen, auch als solch ein Herrschaftswissen verstehen?

Ja, es ist ein Herrschaftswissen. Wenn ich weiß, wie Verbindungen auf einer Plattform stattfinden, kann ich nämlich besser vorhersehen, wie sie morgen stattfinden werden. Und da die Machtbasis der Plattformen in diesen Verbindungen bestehen, ist es enorm wichtig zu wissen, wohin sich diese entwickeln. Man erinnere sich in diesem Kontext etwa daran, dass Facebook einst eine Marktforschungsapp herausgab, die sich bestimmte Leute dann gegen Bezahlung auf ihrem Smartphone installieren konnten. Diese App trackte die gesamte Interaktion mit dem Smartphone. Aus diesen Stichproben hatte Facebook herauszulesen versucht, wohin der Trend in puncto Social Web geht. Und dank dieser Metaanalysen haben sie dann – zur damaligen Verwunderung vieler Beobachter – sehr früh Whatsapp und Instagram aufgekauft, weil sie wussten, wohin der Trend geht. Gleichwohl scheint mir die Debatte um das aus Daten aggregierte Wissen oft auch ein wenig überzogen. Letztlich ist dieses Wissen zwar wichtig, aber nicht essentiell. Wichtiger als Wissen über Verbindungen ist die Tatsache, dass diese Verbindungen über Deine Infrastruktur stattfinden. Das Wissen ist dafür zwar ein Hilfsmittel, aber nicht der eigentliche Kern. Die Materialität der Verbindung schlägt das Wissen um die Verbindung jedes Mal.

Die Tatsache, dass bestimmte Diensteplattformen, allen voran Facebook oder Twitter, mittlerweile zu zentralen Diskursorten avanciert sind, ruft indes auch politische Fragen nach ihrem Kontrollregime auf den Plan. Sei es, weil in das spezifische Design der Plattformen bestimmte Vorannahmen einfließen, sodass beispielsweise bestimmte Arten von Content privilegiert ausgespielt werden, oder sei es, weil bestimmte Zugangsregeln als problematisch gelten, etwa das Sperren oder auch Nicht-Sperren von Accounts. Wie lässt sich am besten mit diesen Fragen umgehen?

Die Fragen des Zugangs und der Sichtbarkeit lassen sich am besten dadurch adressieren, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer organisieren, indem sie sich zu Kollektiven zusammenschließen, die so groß sind, dass die Plattformen ein Interesse haben, mit diesen Kollektivakteuren in Verhandlung zu treten. Das ist natürlich ein ganz altes Prinzip, nämlich das der Arbeiterbewegung: Es geht um die Organisation und Bündelung von Interessen, sodass die Abhängigkeit von diesen Interessen erhöht werden kann. Zudem sollte die Macht von Plattformen eingeschränkt werden, indem man diese dazu zwingt, bei den Such-, Matching- und Ranking-Algorithmen Drittanbieter zuzulassen. Als Reaktion auf Ihre eingangs erwähnte Anekdote über Facebooks schlechten Newsfeed wäre es dann also vielleicht möglich, alternativ den Newsfeed vom Philosophie Magazin zu installieren. So sehr der Markt von neoliberaler Seite fetischisiert wird, vermag er Macht durch die Erzeugung von Konkurrenz zumindest diffuser werden zu lassen und Abhängigkeiten zu reduzieren.

Die Bedeutung von Algorithmen betonen Sie auch im Buch, weisen aber ebenfalls daraufhin, dass es bisweilen gar nicht so sehr die Algorithmen selbst sind, die den zentralen Unterschied ausmachen, als vielmehr die Tatsache, wie gut diese mit Daten „trainiert“ werden. Müsste man vor dem Hintergrund, dass Apple und Google mit ihren Unmengen an verfügbaren Nutzerdaten hier einen riesigen Vorsprung haben, nicht eingestehen, dass deren Macht kaum noch über den Markt zu regulieren ist?

Das ist ein großes Problem, ja. Google stellt seine Machine Learning-Algorithmen ja sogar jedem zur Verfügung, man kann sie sich frei herunterladen. Nur erfordert der Lernprozess dieser Algorithmen eben einen riesengroßen Wust an Daten. Mein Vorschlag, die Algorithmen für alternative Anbieter zu öffnen, ist also in der Tat mit dem Hindernis konfrontiert, dass die Drittanbieter bis dato keinen Zugriff auf die Daten der Nutzer haben. Und an dieser Stelle gibt es einen Konflikt, den wir noch ausfechten müssen. Das Problem ist nämlich, dass wir die Digitaldebatte in den letzten Jahrzehnten immer in der Terminologie des Datenschutzes geführt haben. Das hat einerseits dazu geführt, dass andere Probleme nicht ausreichend sichtbar wurden, allen voran die Macht der Plattformen, andererseits die Datenschutz-Regulierungen die Macht dieser Plattformen noch gestärkt haben. Wenn ich nun sage, dass nicht nur Facebook Zugriff auf die Nutzerdaten haben sollte, sondern auch Drittanbieter, werden die Datenschützer die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Denn denen ist es am Ende lieber, dass es einen großen Anbieter gibt, der dann datenschutzkonform ist, als dass wir die Macht der Plattformen einschränken. Doch ich glaube, wir müssen diese Diskussion führen.  

Am Ende Ihres Buches bemerken Sie, dass die Macht der Plattformen das Ende jener repräsentativen Demokratie einläuten, wie wir sie kennen. Was lässt sich dagegen tun? Oder ist das womöglich auch gar nichts Schlechtes?

Ich will in dieser Hinsicht nichts beschönigen, denn in diesem Prozess stecken eine Menge Gefahren. Wir befinden uns gerade in einer Übergangsphase und diese sind eigentlich immer holprig. Man darf aber auch nicht den Fehler machen, das bestehende System zu idealisieren. Die Idee der Repräsentation, die unsere politische Landschaft so lange strukturiert hat, sowohl auf der medialen als auch institutionellen Ebene, beruhte auf der grundlegenden Vorstellung relativ homogener Gruppen, die durch Fernsehintendanten, Chefredakteure oder Politiker repräsentiert werden können. Ein Großteil der Unzufriedenheit und teilweise offenen Gegnerschaft gegenüber politischen Institutionen ist heute jedoch davon getragen, dass diese Formen der Repräsentation nicht weiter akzeptiert werden. Das sehen wir bei Black Lives Matter oder #MeToo, aber auch bei neuen rechtspopulistischen Medien. Und dieses Aufbrechen der Illusion von Repräsentation zugunsten viel unmittelbarer, konkreteren Verbindungen, etwa über Social Media, erzeugt eine Systemkonkurrenz. Es gibt eine alte Ordnung, nämlich die Form der Repräsentation, durch die politische Institutionen strukturiert werden, und es gibt neue, direktere Formen. Und das zweite System unterminiert das erste. Das wird sich weiter verschärfen, sodass wir womöglich an einen Punkt kommen, an dem die repräsentativen Institutionen nicht verschwinden, aber an Bedeutung verlieren. Ein starkes Indiz dafür war Donald Trump, der sich gegen jegliche Form institutioneller Politik, selbst jene seiner eigenen Partei, durchsetzte. Vergleichbares ließ sich bei Macron beobachten. Und ähnliches wird sich auch absehbar in Deutschland zeigen. Was daraus folgt, ist jedoch deshalb unklar, weil zunächst einmal ein gewisses Machtvakuum entsteht. Die neuen Strukturen sind zwar diskursmächtig und strukturieren gerade die Öffentlichkeit um, aber die formalen Machthebel des repräsentativen Systems bleiben bestehen. So oder so wird es aber zu einem Strukturwandel kommen, der nicht aufzuhalten ist. •        

 

Michael Seemann ist Kultur- und Medienwissenschaftler und Autor mehrerer Sachbücher. „Die Macht der Plattformen – Politik in Zeiten der Internetgiganten“ ist jüngst im Ch. Links Verlag erschienen (448S., 25 €).

  • Email
  • Facebook
  • Linkedin
  • Twitter
  • Whatsapp
Anzeige
Tag - Body

Weitere Artikel

Anzeige
Tag - Body
Hier für unseren Newsletter anmelden!

In einer Woche kann eine ganze Menge passieren. Behalten Sie den Überblick und abonnieren Sie unseren Newsletter „Denkanstöße“. Dreimal in der Woche bekommen Sie die wichtigsten Impulse direkt in Ihre Inbox.


(Datenschutzhinweise)

Jetzt anmelden!

Fils d'ariane

  1. Zur Startseite
  2. Artikel
  3. Michael Seemann: „Plattformen machen Kapitalisten zur austauschbaren Infrastruktur“
Philosophie Magazin Nr.Nr. 68 - Januar 2023
Philosophie magazine : les grands philosophes, la préparation au bac philo, la pensée contemporaine
Februar/März 2023 Nr. 68
Vorschau
Philosophie magazine : les grands philosophes, la préparation au bac philo, la pensée contemporaine
Rechtliches
  • Werbung
  • Datenschutzerklärung
  • Impressum
Soziale Netzwerke
  • Facebook
  • Instagram
  • Twitter
  • RSS
Philosophie Magazin
  • Über uns
  • Unsere App
  • PhiloMag+ Hilfe
  • Abonnieren

3 Hefte frei Haus und PhiloMag+ Digitalzugang für nur 20 €

Jetzt ausprobieren!