Sean Illing: „Die Freiheit der Demokratie ist zugleich das, was sie von innen heraus zu zerstören vermag“
Soziale Medien scheinen demokratische Debatten in ungekanntem Maß auszuhöhlen. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: neue Medien begünstigten schon immer Aufwieglertum und politische Turbulenzen. Im Interview erklärt Sean Illing, warum Demagogie und Demokratie so oft gemeinsam auftreten.
Für alle, die in Sorge sind über den Zustand der politischen Debatte und der Medien, bietet ihr Buch The Paradox of Democracy eine beruhigende Botschaft. Sie schreiben, dass das Ausmaß an Hetzrede und Desinformation, das wir heute erleben, nichts Neues sei, sondern auch schon zu anderen Zeiten vorkam. Welches historische Muster beobachten Sie, und wie fügt sich unsere gegenwärtige Situation da ein?
Ich hatte die Medien immer eher für Werkzeuge als für Triebkräfte menschlicher Kultur gehalten, doch tatsächlich sind sie beides. Ein Blick in die Geschichte von Demokratie und Medien zeigt, dass jede neue Technologie neue rhetorische Formen und kognitive Gewohnheiten hervorbrachte, die einen gesellschaftlichen Umbruch bewirkten. Die Gesellschaften im antiken Athen und Rom gründeten auf Redefreiheit und Rhetorik, doch diese Kulturen wurden durch Sophisterei und populistische Demagogen ausgehebelt. Im 15. Jahrhundert machte die Erfindung der Druckerpresse die Massenproduktion von Büchern und Zeitungen möglich und bereitete damit einerseits den Weg für die Aufklärung und die demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts – andererseits aber auch für einen verheerenden Religionskrieg. Im 19. Jahrhundert trug die Einführung der Telegraphie entscheidend zur Verbreitung liberal-demokratischer Normen bei, bot aber zugleich gewalttätigen Nationalisten eine Plattform. Der Faschismus wäre nicht ohne die Massenmedien Film und Radio möglich gewesen. Und im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts löste wiederum das Fernsehen einen Wandel unserer politischen Kultur aus, weil nun das Bild einen höheren Stellenwert erhielt als das gedruckte Wort. Was für eine Umwälzung das war, lässt sich kaum überschätzen. Die jüngste Revolution ist natürlich das Internet, insbesondere die sozialen Medien. Sie verändern uns in einer Weise, die wir gerade erst anfangen zu begreifen.
Ihrer Ansicht nach sind Medien also nicht bloß ein Werkzeug, sondern haben prägenden Einfluss auf unsere Kommunikationskultur. Sie berufen sich dabei auf die Arbeiten Marshall McLuhans, einer der bedeutendsten Medientheoretiker des vergangenen Jahrhunderts. Was meinte McLuhan mit seinem berühmten Satz „The medium is the message“, und warum ist seine Arbeit für Ihre Argumentation so wichtig?
Die Aussage von „The medium is the message“ ist, dass die Formen unserer Kommunikation deren Inhalt diktieren. Gut veranschaulichen lässt sich dieser Effekt, wenn wir über das gedruckte Wort und das Fernsehen sprechen. Das gedruckte Wort als Medium ist abwägend, es ist langsam, es ist anspruchsvoll, es ist linear. In einer Kultur, die überwiegend durch das geschriebene Wort kommuniziert, ist die Politik von ganz anderer Art als in einer Kultur, die hauptsächlich durch das Fernsehen kommuniziert. Sie hat ein anderes Verständnis von Zeit, sie ist reflexiver, mehr nach innen gerichtet. Gedruckte Texte sind ein Raum der Ideen, des abstrakten Denkens. Wenn Sie politische Pamphlete aus dem 18. und 19. Jahrhundert lesen, werden Sie staunen, wie viel raffinierter ihre Rhetorik im Vergleich zu heutiger politischer Literatur war. Beim Fernsehen dagegen geht es immer um Bewegung und Aktion, es basiert ja auf Bildern. Der logischen Argumentation ist es nicht zuträglich, es will emotionale Reaktionen auf passive Weise hervorrufen. Und seinem Wesen nach muss es unterhaltsam sein.
Marshall McLuhan argumentierte, neue Technologien würden in Gesellschaften aller Art zu Umbrüchen führen. Sie nehmen die disruptiven Auswirkungen in den Blick, die Technologie speziell auf demokratische Gesellschaften haben. Heißt das, Sie sind anderer Meinung als McLuhan?
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Kommentare
Westliche Medien bereichten (US-getreu) genauso tendenziös wie russische Medien nur wesentlich subtiler. Was überhaupt nie zur Sprache kommt ist, dass es in der Ukraine besonders viele Botfabriken gab und gibt. Das gleiche machen übrigens auch amerikanische Geheimdienste, oder nimmt jemand allen Ernstes an - sie, die über alle erdenklichen Finanzmittel und Möglichkeiten verfügen tun das nicht - weil es sich nicht gehört. Eben weil ständig so berichtet wird ist eben das unwahrscheinlich.